Wie kaum einem anderen Jazzkünstler ist es Keith Jarrett über Jahrzehnte hinweg gelungen, die größten und renommiertesten Konzertsäle der Welt zu füllen – sei es als Solist, mit seinem “Standards”-Trio oder einer seiner anderen Formationen. Deshalb erregte das Album “At The Deer Head Inn”, als es 1994 erschien, besondere Aufmerksamkeit. Denn entstanden war es zwei Jahre zuvor in der intimen Atmosphäre eines kleinen Jazzclubs, dem Deer Head Inn in den Pocono Mountains in Pennsylvania. Eine historische Note erhielt die Aufnahme auch dadurch, dass Jarrett bei dieser Gelegenheit in einer ungewöhnlichen Trio-Konstellation auftrat: mit Gary Peacock, dem Bassisten seines “Standards”-Trios, und dem Schlagzeuger Paul Motian, der in den 1970er Jahren Mitglied von Jarretts erstem Trio und seinem “American Quartet” gewesen war. Zum 30. Jahrestag der Veröffentlichung von “At The Deer Head Inn” erschien im November 2024 das Album “The Old Country (More from the Deer Head Inn)” mit bisher unveröffentlichten Aufnahmen desselben Konzerts. “Hochkarätiger Piano-Trio-Jazz, der durchweg begeistert”, schrieb die Financial Times über das Album. “Wieder einmal werden Jazzstandards mit Songbook-Evergreens gemischt, das Trio harmoniert prächtig und das Zusammenspiel flüssig, fokussiert und frisch.”
Dass Keith Jarrett, der am 8. Mai 1945 in Allentown, Pennsylvania, geboren wurde, bei seinem Auftritt im Deer Head Inn so inspiriert und entspannt spielte, hatte einen Grund: Hier hatte er 1961 als 16-Jähriger zum ersten Mal die Chance erhalten, mit einem eigenen Trio vor Publikum aufzutreten. Zwei Jahre später, nach Abschluss der Highschool, zog er nach Boston, um am Berklee College ein Musikstudium zu beginnen, das er jedoch bald abbrach, um sich Hals über Kopf in die New Yorker Jazzszene zu stürzen. Dort verdiente er sich seine ersten Sporen an der Seite von Chet Baker und Lee Konitz sowie in Art Blakey’s Jazz Messengers, bevor ihn der Saxophonist Charles Lloyd1966 in sein damals immens populäres Quartett holte. 1968 gründete er mit dem BassistenCharlie Haden und dem Schlagzeuger Paul Motian sein eigenes Trio, das später durch den Saxofonisten Dewey Redman zum “American Quartet” erweitert wurde.
Bevor er 1971 den Weg zu Manfred Eicher und dem damals noch jungen deutschen Label ECM Records fand, spielte er zwei Jahre lang eine für ihn ungewohnte Rolle als Organist und E-Pianist in der revolutionären Jazzrockband von Miles Davis. Ganz anders präsentierte sich Jarrett 1972 auf “Facing You”, seinem Debütalbum für ECM, das neue Maßstäbe setzte und zugleich Vorbote der improvisierten Soloklavierkonzerte war, die für Jarretts Karriere so prägend werden sollten. 1973 organisierte das Label eine Europatournee mit achtzehn Konzerten, bei denen Jarrett das Programm ausschließlich mit Soloimprovisationen bestritt und die Aufnahmen für das im selben Jahr erschienene Dreifachalbum “Solo Concerts: Bremen/Lausanne” entstanden. Für noch mehr Furore sorgte er zwei Jahre später mit dem Doppelalbum “The Köln Concert”, das sich inzwischen über als vier Millionen Mal verkauft hat und zur Legende wurde. Bis sich Jarrett 2018 nach zwei Schlaganfällen für immer von der Bühne verabschieden musste, erschienen zahlreiche weitere Aufnahmen von improvisierten Solokonzerten, die oft schlicht nach dem Aufführungsort benannt waren (u.a. “Paris Concert”, “Vienna Concert”, “La Scala”, “The Carnegie Hall Concert”, “La Fenice”), manchmal aber auch “richtige Titel” trugen, wie die zehn LPs bzw. sechs CDs fassende Box “Sun Bear Concerts”, “Dark Intervals”, “A Multitude Of Angels”, “Radiance” und “Creation”. Zuletzt erschienen jeweils auf Doppel-CD drei hervorragende Konzertmitschnitte von Jarretts letzter, gefeierter Europatournee: “Munich 2016” (veröffentlicht 2019), “Budapest Concert” (2020) und “Bordeaux Concert” (2022).
Aber Keith Jarrett hat sich bei ECM in all den Jahrzehnten natürlich nicht nur als einfallsreicher Solo-Improvisator profiliert. Auch mit seinem “American Quartet” und dessen skandinavischem Pendant, dem “European Quartet” mit dem Saxofonisten Jan Garbarek, dem Bassisten Palle Danielsson und dem Schlagzeuger Jon Christensen hat er für ECM äußerst einflussreiche Alben eingespielt. Ein neues Kapitel schlug der Pianist 1983 auf, als er mit dem Bassisten Gary Peacock und dem Schlagzeuger Jack DeJohnette das sogenannte “Standards”-Trio gründete. Bis 2014 tourte er mit seinen kongenialen Spielpartnern immer wieder ausgiebig durch die Welt und nahm mit ihnen über zwanzig Alben auf, auf denen sie größtenteils Jazzstandards, Tin-Pan-Alley-Hits und anderen Kostbarkeiten des “Great American Songbook” erfrischend neues Leben einhauchten, manchmal aber auch frei improvisierten.
Eine wiederum andere musikalische Facette zeigte Keith Jarrett ab 1987 mit einer Reihe von Aufnahmen des klassischen Klavierrepertoires, darunter “The Well-Tempered Clavier, Book I & Book II” und die “Goldberg Variations” von Bach sowie die besonders anspruchsvollen “24 Preludes And Fugues op.87” von Schostakowitsch, Darüber hinaus ist er auch auf Arvo Pärts “Tabula Rasa” zu hören.