“Wenn man dem Jazz neues Leben einhauchen will, muss man zu seinen Ursprüngen zurückgehen”, sagte Cassandra Wilson vor ein paar Jahren in einem Interview mit der britischen Zeitschrift Metro. “Die meisten Jazzmusiker klingen zum Beispiel ein wenig generisch, wenn sie versuchen Latin-Jazz zu spielen. Sie spielen nur eine aus dritter Hand überlieferte Jazzinterpretation von Musik aus Kuba oder Brasilien. Das gefällt mir nicht. Ich versuche, mir die Originalmusik genau anzuhören und zu verstehen, was sie so einzigartig macht. Das Gleiche gilt für den Blues. Man hört viel Blues-Rock oder Jazz-Blues, aber man muss eigentlich Typen wie Robert Johnson und Charley Patton hören. Die meisten Jazzmusiker tun das nicht, nicht auf die gleiche Weise wie sie Louis Armstrong hören. Tatsächlich schämen sich viele Afroamerikaner für den Blues. In der Bürgerrechtsära betrachteten sie ihn als Opfermusik, als Musik für Verlierer. Aber wenn man die Originalaufnahmen aus dem Mississippi-Delta aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hört, sind sie furchteinflößend. Hypnotisch, gespenstisch, gefährlich, ursprünglich. Sie können einem die Nackenhaare zu Berge stehen lassen.”
Haarsträubend – und zwar in einem durch und durch positiven Sinne – sind auch die inzwischen klassischen Aufnahmen, die Cassandra Wilson ab 1993 für Blue Note machte. Etabliert hatte sie sich vorher bereits als Lead-Sängerin von Steve Colemans Band Five Elements, dem M-Base Collective, Henry Threadgills New Air und natürlich mit ihren eigenen Aufnahmen für das deutsche Label JMT. Doch der wahre künstlerische und kommerzielle Durchbruch gelang ihr erst bei Blue Note unter der Regie des Produktionsnovizen Craig Street. In der preiswerten Box “5 Original Albums” sind die bahnbrechenden ersten fünf Soloalben die Wilson zwischen 1993 und 2003 einspielte nun erstmals gemeinsam erhältlich. Ausgestattet ist die Box mit Original-Albumartwork, Stecktaschen-CDs und einem attraktiven Schuber.
Blue Light 'til Dawn (1993)
Auf ihren sieben JMT-Alben hatte sich Cassandra Wilson stets mit einer Mischung aus eigenen Songs, Kompositionen der sie begleitenden M-Base-Kollegen und bekannten Jazzstandards präsentiert. Einen ziemlich radikalen Richtungswechsel vollzog sie 1993 auf ihrem Blue-Note-Debütalbum, für das sie – umgeben von neuen Musikern wie dem Gitarristen Brandon Ross – u.a. einige Blues- und Soul-Klassiker sowie Songs von Joni Mitchell und Van Morrison interpretierte. “Blue Night 'til Dawn” gab nicht nur Wilsons Karriere einen kräftigen Schub, sondern war zudem die erste Produktion von Craig Street, der danach auch Erfolge mit Norah Jones, k.d. lang, Meshell Ndegeocello, Rebekka Bakken, Lizz Wright, Madeleine Peyroux, Joe Henry, John Legend und Bettye LaVette feiern sollte.
New Moon Daughter (1995)
Ähnlich eklektisch – mit Songs von u.a. Billie Holiday, Son House, U2, Hank Williams und den Monkees – fiel 1995 auch Wilsons zweites Blue-Note-Album aus, mit dem sie ihren ersten Grammy gewann. “Mit einem Repertoire, das sowohl Blues, Pop und Country als auch fünf von Wilsons eigenen, schwer in Kategorien einzuordnenden Originalen umfasst, reißt ‘New Moon Daughter’ die Grenzen zwischen musikalischen Stilen nieder”, schrieb Bill Kohlhaase in der Los Angeles Times. “Doch Wilsons Darbietungen zeigen so viel Jazzbewusstsein, dass sie selbst die suspekteste Nummer noch in ein Wunderwerk von Ausdruck und Gefühl verwandelt.”
Traveling Miles (1999)
Der dritte Geniestreich gelang Wilson 1999 mit “Traveling Miles”, einer ausgefallenen Hommage an Miles Davis. Viel Mut und Fantasie bewies die Sängerin hier bei der Auswahl des Programms, das sich nicht auf die üblichen Davis-Standards der 1950er und 1960er Jahre beschränkte, sondern auch Nummern aus späteren kreativen Phasen des Trompeters berücksichtigte und sogar eigene Kompositionen einbezog. Auf All About Jazz meinte C. Michael Bailey über das Album: “Durch ihre Bereitschaft, Risiken einzugehen und die Musik so weit wie möglich voranzutreiben, fängt Cassandra Wilson die Essenz ein und ehrt so die Erinnerung an Miles Davis.”
Belly Of The Sun (2002)
“Mit einer Stimme, die so reich und karamellig ist wie die von Sarah Vaughan, und einer Vortragsweise, die so intim unterhaltend ist wie die von Joni Mitchell, ist Cassandra Wilson die perfekte Jazzsängerin für Leute, die Jazzgesang nicht besonders mögen”, urteilte J.D. Considine im amerikanischen Rolling Stone über Cassandra Wilsons viertes Blue-Note-Album. “Sie covert Rock-Songs – ‘Belly Of The Sun’ beinhaltet u.a. ‘Wichita Lineman’ und ‘The Weight’ -, aber sie gibt nicht vor, eine Rockerin zu sein, während die semi-akustischen Arrangements die luftige Raffinesse von Mitchells ‘Hejira’ haben.”
Glamoured (2003)
Auf “Glamoured” (zu deutsch: verzaubert oder verhext) setzte sich Wilson auf bittersüße Weise mit den Themen Liebe und Ehe auseinander. Zwar interpretierte sie auch diesmal einige Songs aus fremder Feder (u.a. von Bob Dylan, Sting, Willie Nelson, Muddy Waters und Abbey Lincoln), steuerte aber mit ihrem neuen Songwriting-Partner, Gitarristen und Produzenten Fabrizio Sotti mehr Eigenkompositionen denn je zuvor bei. “Diese Songs sind durchsetzt mit einer kontrollierten, augenzwinkernden Sinnlichkeit, ausgelassenen und synkopierten Rhythmen sowie Melodielinien, für die man töten könnte”, schrieb Thom Jurek euphorisch im All Music Guide.