Mit “Her First Dance” legt der aus der Ukraine stammende Pianist Misha Alperin nach zehn Jahren endlich wieder ein Album mit neueren Aufnahmen bei ECM Records vor. Zwar wurden bei dem Münchner Label von ihm in der letzten Dekade noch zwei Alben herausgebracht: Aber sowohl das 2001 erschienene Solowerk “At Home” (ECM 1768) als auch das 2002 veröffentlichte Trioalbum “Night” (ECM 1769) enthielten Einspielungen, die bereits 1998 aufgezeichnet wurden. 1998 war das Jahr, als Alperin die deutsche Cellistin Anja Lechner bat, ihn bei seinem Auftritt beim Vossa Jazz Festicval in Norwegen zu begleiten. Das Konzert war die Geburtstunde des Ensembles, das wenig später das “Night”-Projekt verwirklichen sollte. Auf seinem neuen Album, das sowohl Solo- als auch Duo- und Trioaufnahmen enthält, setzt Alperin die produktive Kooperation mit Anja Lechner fort und trifft zudem erneut mit dem russischen Hornisten Arkady Shilkloper zusammen, der seit vielen Jahren ein regelmäßiger Spielpartner des Pianisten ist. Für ECM nahmen die beiden seit1989 gemeinsam schon die Alben “Wave Of Sorrow” (ECM 1396), “North Story” (ECM 1596) und “First Impression” (ECM 1664) auf.
Auf “Her First Dance” stehen natürlich Alperins eigene Kompositionen und sein Pianospiel im Vordergrund. Im “Jazz” (wenn man den Stilbegriff etwas weiter fassen darf) gibt es keinen Pianisten, dessen Anschlagkultur sich mit der von Misha Alperin vergleichen ließe. Seine klare Artikulation – selbst noch in temporeicheren Passagen wie etwa zu Beginn von “Vayan” oder im Stück “Jump” – ist ein beredtes Zeugnis von seiner ersten Karriere als “klassischer” Musiker, in deren Verlauf er die Werke der Giganten der russischen Musik des 20. Jahrhunderts interpretierte. Bis auf eine Ausnahme – den von Arkady Shilkloper geschriebenen und von dem Hornisten im Duett mit Anja Lechner eingespielten “Russian Song” – stammen sämtliche Stücke von Alperin. “Vayan”, “April In February”, “Lonely In White” und “Via Dolorosa” sind Solostücke. Im Duo nahm Misha Alperin drei Nummern auf: das Titelstück des Albums mit Shilkloper und “A New Day” sowie “Frozen Tears” mit Lechner. Das Trio formierte sich lediglich für die Einspielung von “Tiflis”.
Der 1956 im ukrainischen Kamjanez-Podilskyj geborene Michail Jefimowitsch Alperin wuchs im ländlichen Bessarabien, dem östlichen Teil Moldawiens auf. Während er am Konservatorium klassisches Klavier und Komposition studierte, spielte er nebenbei mit Volksmusikern seiner Heimat zusammen. 1976 schloß Alperin sein Studium ab und arbeitete zunächst als freischaffender Komponist, Arrangeur und Pianist. 1980 wurde er Mitglied des von dem Saxophonisten und Violinisten Semjon Shirman geleiteten Moldavian Jazz Ensemble. Zum Jazz hatte Misha Alperin eigentlich erst spät gefunden. Er war bereits 24 Jahre alt, als er diese Musik durch Platten von Charlie Parker und John Coltrane schätzen lernte. Die Kraft ihrer Musik überwältigte ihn so sehr, daß er die Soli der beiden Improvisationsmeister zu transkribieren begann und sie auf dem Piano nachzuspielen versuchte. Erst danach wandte er sein Interesse Jazzpianisten zu: vornehmlich Art Tatum, Red Garland, Thelonious Monk, Lennie Tristano und Keith Jarrett.
1983 zog Alperin nach Moskau, wo er Arkady Shilkloper kennenlernte. Der Hornist spielte damals mit dem Moskauer Sinfonieorchester, dem Orchester des Bolschoi-Theaters und dem Bolschoi-Blechbläserquintett. In dieser Zeit begann Misha Alperin damit, sich mit den Gemeinsamkeiten der russischen und rumänischen Folkloremusik der moldawischen Region auseinanderzusetzen. Auf experimentelle Weise verband er Elemente dieser Volksmusiken mit der Jazztradition, so wie er sie verstand. “Es war eine große Herausforderung für mich, zu versuchen, etwas zu Mishas Konzept beizusteuern”, erinnerte sich Shilkloper vor ein paar Jahren. “Denn die moldawische Musik, die er adaptiert hatte, ist dafür bekannt, daß sie an Bläser hohe Anforderungen stellt.” Alperin, von der Universalität der Musik überzeugt, hatte weniger Zweifel. “Ich möchte Barrieren niederreißen und Grenzen nicht nur im geographischen Sinne überschreiten, sondern auch in historischer Hinsicht – die Grenzen zwischen Epochen.” Mit seinem “Russian Song” trägt Arkady Shikloper dazu auch auf dem aktuellen Album bei.
Die erste gemeinsame europäische Tournee führte das Duo Alperin/Shilkloper unter anderem nach Oslo, wo sie 1989 “Wave Of Sorrows” aufnahmen, ein Album, das gleich das Interesse der europäischen Kritik weckte. “Alperins Kompositionen bestimmten Genres zuzuordnen ist unmöglich”, schrieb Thomas Rothschild damals in der Frankfurter Rundschau. “Meist sind es aphoristische Stücke, die Bartók, Schnittke oder Kurtág ebenso viel verdanken wie Jarrett oder Corea. Tatsächlich sind sie einzigartig und verdienen es unbedingt gehört zu werden.”
Seit 1993 lebt Misha Alperin in Oslo, wo er an der Norwegischen Staatsakademie für Musik eine Professur für Jazzpiano und Improvisation innehat. In den fünfzehn Jahren, die er nun schon in Norwegen zuhause ist, etablierte sich der Pianist nicht nur als wichtiger Impulsgeber für eine ganze Generation von jungen zeitgenössischen Musikern, sondern arbeitete auch mit den bedeutendsten Improvisationskünstlern des Landes zusammen (Schlagzeuger Jon Christensen begleitete ihn beispielsweise 1995 auf “North Story” und 1997 auf “First Impression”).
Anja Lechner kennt man als Mitglied des Rosamunde Quartetts, das für ECM unter anderem schon Kompositionen von Tigran Mansurian, Valentin Silvestrow, Dmitri Schostakowitsch, Anton Webern, Thomas Larcher und Joseph Haydn einspielte. Daß Lechner auch zu Improvisieren versteht und sich ebenso gekonnt auf dem Parkett anderer Musiktraditionen zu bewegen vermag, bewies sie mehrfach durch die Zusammenarbeit mit Musikern wie Dino Saluzzi und François Couturier. Ihre jüngste Kollaboration mit Saluzzi, dokumentiert auf dem im März letzten Jahres erschienenen Album “Ojos Negros” (ECM 1991), wurde von dem amerikanischen Jazzmagazin Down Beat zum Album des Jahres 2007 gekürt. Und Vassilis Tsabropoulos' “Chants, Hymns And Dances” (ECM New Series 1888), auf dem die deutsche Cellistin ebenfalls mitwirkte, führte 2004 die Klassik-Verkaufscharts von Amazon an.
“Her First Dance” wurde von Manfred Eicher produziert und im Auditorio Radio Svizzera in Lugano aufgenommen. Das Schweizer Studio war in letzter Zeit oftmals Dreh- und Angelpunkt für ECM-Aufnahmen. Entstanden sind dort zum Beispiel die Einspielungen für Anouar Brahems “Le Voyage De Sahar” (ECM 1915), François Couturiers “Nostalghia – Song For Tarkovsky” (ECM 1997), “The Third Man” (ECM 2020) von Enrico Rava und Stefano Bollani sowie Bollanis “Piano Solo” (ECM 1964).