Anna Ternheim | Offizielle Biografie

Biografie

Anna Ternheim
Anna Ternheim
“Am Tag meiner Geburt im Jahr 1978 gab es einen totalen Stromausfall, ich kam um drei Uhr in der Früh beim Schein von Taschenlampen zur Welt. Deshalb schreibe ich nächtliche Musik … das war schon immer so und wird wohl auch ewig so bleiben.” Anna Ternheim
2008. Es war das Jahr, in dem Anna Ternheim – nicht als erste und sicherlich auch nicht als einzige junge suchende Musikerin – sich ganz und gar von New York City verschlucken ließ. Die leichtherzige Brutalität der Stadt und die Aussicht auf Unberechenbarkeit schienen genau das zu sein, was ihre zerrissene Seele brauchte. Und so kehrte Ternheim ihrer Heimat Schweden zu Beginn des Frühlings 2008 den Rücken und wurde zu einer Expat in New York, fest dazu entschlossen, die ganze Stadt zu durchstreifen.
2010 Winter
Von der kräftezehrenden Tournee im Anschluss an die Veröffentlichung des dritten Albums vollkommen ausgelaugt, fand sich Anna Ternheim plötzlich in einer Situation wieder, in der es schien, als ob ihr jegliche Kreativität abhanden gekommen wäre. Sie war ausgepowert. Ihr fehlten Reize. Während sie im Dunkeln herumtappte und nach der verlorengegangenen Lust suchte, streifte sie ziellos durch die Stadt, inständig hoffend, dass ihre Augen etwas erblickten, das ihren seltsam glühenden Appetit auf die Kunst, Musik und Abenteuer anderer stillen würde.
Anna: “Wenn ich ein Album oder eine Tournee beendet habe, empfinde ich gewöhnlich Heißhunger auf neue Musik. Dann möchte ich meine eigene Blase verlassen und neue Perspektiven entdecken. Also sah ich mir einen Auftritt der Band Tinariwen im Bellhouse an. Sie hat mich vollkommen umgehauen und mein Interesse am Wüsten-Blues definitiv vertieft. Diese repetitiven, hypnotisierenden Vibes sind etwas, das mich wirklich anspricht. Einer meiner Freunde machte mich auf David S. Ware aufmerksam, einen improvisierenden Saxophonisten. Dessen Musik ist total unkonventionell und Meilen von dem entfernt, was ich selbst mache. Aber er ist so sehr im Einklang mit seinem Instrument, dass ich mich in ihn hineinversetzen wollte.”
Bei diesen musikalischen Begegnungen entdeckte Anna etwas, wonach sie unbewusst gehungert hatte: die Form von absoluter Kontrolle, die einem paradoxerweise mehr Freiheit verschafft und bei der die Instrumente in den Händen des Musikers bloße Verlängerungen seiner Gedanken sind. Ihr wurde klar, dass es nur einen Weg gab, diesen Ort zu erreichen: sie musste auf ihrer Gitarre üben. Über Disziplin würde sie den Zugang zu musikalischem Reichtum und Leichtigkeit erhalten. Für Ternheim, die von natürlichem Instinkt geleitete Autodidaktin, war dies ein weit offener Pfad, den sie bis dahin noch nie beschritten hatte.
2010 Sommer
Die Zeit für flirrend heiße Nächte auf Dachterrassen und kochenden Asphalt war gerade angebrochen, als Anna etwas zu hören begann. Noten, Fragmente, eine aufkeimende Richtung. Als sie mit Freunden bei Tee und Schaumgebäck am Küchentisch in Ditmas Park, Brooklyn saß und sich wortreich darüber ausließ, wie sie sich gerade mit ihrer Gitarre abmühte, machte ein mitfühlender Kollege die folgende schicksalhafte Bemerkung: “Ich kenne einen Ort, der dir mehr bieten kann, als du dir je erträumt hast. Geh dort hin und du wirst genau die Gitarre finden, die du brauchst, um die Songs aus dir heraus zu kitzeln, von denen du sprichst.” Der Ratschlag ihres Freundes führte Anna an einem heißen, feuchten Nachmittag im Juli vor ein unauffälliges Schaufenster in einer abgelegenen Gegend von Brooklyn. Dort fand Ternheim das, was in den kommenden Wochen und Monaten ihr Leuchtfeuer werden sollte, ihr Waffenbruder, das Bindeglied zwischen ihren Gedanken und ihren Händen. Es war eine ramponierte Gibson aus den 1930ern.
2010 Herbst
Als der nächste Jahreszeitenwechsel bevorstand, fühlte sich Anna trotz ihrer neuen angeschlagenen Gitarre immer noch keinen Schritt weiter. Es war, als würde sie etwas umkreisen, ohne diesem Etwas aber näher zu kommen. Im Oktober wurde sie langsam von Panik ergriffen. Die Zeit schien beständig voranzuschreiten und sie immer weiter zurückzulassen. So wandte sie sich an ihren Freund Matt Sweeney, “einen der besten Gitarristen, mit denen ich je gespielt habe”, und bat ihn um Unterrichtsstunden und Hilfe beim Arrangieren ihrer Songs. Die beiden trafen sich in einem schäbigen Proberaum an der 4th Street, wo langsam eines zum anderen zu kommen begann. Eines Nachts nahm Sweeney sie zu einem Auftritt des weitgehend unbekannten, doch überaus einflussreichen schottischen Folksängers Bert Jansch in einem alten Lagerhaus in Brooklyn mit. Ternheim erkannte den Geist ihres eigenen Stils in dem von Jansch wieder und erinnerte sich an eine Zeit in ihrer eigenen Geschichte zurück, als alte Volkslieder, federleichtes Picking und rankende Melodien tatsächlich ihr ganzes musikalisches Wesen formten.
2011 Ein weiterer Winter
Während ein weiterer eisiger New Yorker Winter heraufzog, trafen sich Sweeney und Ternheim regelmäßig. Die Songs entstanden nun endlich mit einer gewissen Leichtigkeit. Scheinbar aus dem Blauen heraus präsentierte Matt dann eine Idee, die er schon seit geraumer Zeit in sich trug: die gemeinsame Arbeit in Nashville, Tennessee, fortzusetzen.
Matt: “Ich war von den neuen Songs, die sie mir im Proberaum in Brooklyn gezeigt hatte, ziemlich angetan. Sie waren eindringlich und direkt mit ihren modalen Fingerpicking-Gitarrenlinien. Nach ein paar Wochen produktiver Arbeitssessions sagte sie mir, dass sie ein Album machen wollte, dass auf unseren beiden Gitarren und dem gesanglichen Ansatz, den wir gefunden hatten, basieren sollte. Ich hatte kurz zuvor mit Dave Ferguson, Johnny Cashs langjährigem Toningenieur (am besten bekannt für seine Zusammenarbeit mit Cash bei dessen letzten ‘American’-Alben), einen Haufen Songs in Tennessee aufgenommen. Und ich sagte Anna, dass ich ihr Album gerne dort produzieren würde.”
Anna hatte nie zuvor von der Grand Ole Opry, der Music Row oder irgendeiner der anderen kultisch verehrten Nashville-Institutionen und -Legenden gehört, die normalerweise Musiker in der Hoffnung anziehen, dort jenen authentischen, magischen, bodenständigen Klang zu finden. Für Matt war dies tatsächlich ein Vorteil, weil ihm nämlich etwas anderes vorschwebte: er wollte die Dehnbarkeit von Annas Songs mit den großartigen Instrumentalisten aus Dave Fergusons musikalischer Familie kombinieren (von “Ferg” selbst ganz zu schweigen!). Nashville sollte bloß der Aufnahmeort sein, aber den Klang der Einspielungen dennoch nicht in typischer Weise beeinflussen. Anna, die zu diesem Zeitpunkt schon seit einer ganzen Weile wie eine Verrückte gearbeitet hatte, hatte nicht den blassesten Schimmer, worauf sie sich einlassen würde, als sie dem Plan ohne zu zögern zustimmte. Aber sie sollte einen Höllenspaß haben. So packte Ternheim, ohne großartig in Einzelheiten über die bevorstehende Unternehmung eingeweiht zu sein, schnell ihren Koffer und stellte sich – mit heftig klopfendem Herzen – darauf ein, ihre Zelte vorübergehend im Haus eines Fremden aufzuschlagen. Dann machte sie sich einfach auf den Weg. Und in einer lauen Vollmondnacht am Freitag, dem 18. Februar, begann Anna Ternheim mit der Aufnahme ihres vierten Albums: “The Night Visitor”.
Anna: “Wir kamen im Butcher Shoppe an, dem Studio von Dave Ferguson und John Prine, und verbrachten einige Tage damit, live aufzunehmen. Nur mich und Matt mit unseren Akustikgitarren. Ich mag nach außen ruhig gewirkt haben, aber in Wirklichkeit schoss mir das Adrenalin durch die Adern. Doch es dauert nicht lange, schon nach ein paar Tagen fühlte ich mich im Studio zuhause und vertraute ‘Ferg’ nicht weniger als Matt. ‘Ferg’ rief ein paar seiner Freunde an: ‘Hey, ich bin gerade dabei Aufnahmen mit diesem Mädel namens Anna zu machen, sie hat eine großartige Stimme und großartige Songs, wir könnten deine Hilfe bei der einen oder anderen Nummer gebrauchen …’”
Matt: “Als ‘Cowboy’ Jack Clement, Kenny Malone, Ronnie McCoury, Tim O’Brien und der Rest der großartigen Typen, die auf ‘The Night Visitor’ mitspielen, im Studio auftauchten, gerierten sie sich nicht als ‘Nashville-Legenden’, sondern präsentierten sich als offenherzige Musiker, die sich ganz in den Dienst der Songs stellen wollten. Auch Peter Townsend (nicht zu verwechseln mit dem Ex-Who Pete Townshend!) und Will Oldham brachten ihre Talente als Sänger, Texter und Schlagzeuger ein. Zehn Tage vergingen wie im Flug, und wir hatten etwas in Händen, das bereits wie eine Platte klang.”
Tatsächlich: im Butcher Shoppe wimmelte es vor lauter Legenden. Einige schwirrten in Form von sensationellen Geschichten durch die Räume, andere als reale Gestalten. Die Geister von Cash, Orbinson und Perkins waren allgegenwärtig: in den Geschichten an den Wänden und den Erzählungen der Besucher … ja sogar im Staub, der den Boden bedeckte. Der ganze Ort verströmte eine einzigartige Atmosphäre, Lässigkeit, Kunstfertigkeit. Nach 18 Tagen voller Aufnahmen, Grillabenden, Hausmannskost und Fingerpicking-Partys waren die zwölf Songs für “The Night Visitor” beinahe fertig, als am Mardi-Gras-Tag wieder eine Halbmondnacht war.
The Night Visitor
“The Night Visitor” wurde bereits als ein Album beschrieben, das Geschichten erzählt. Das ist natürlich eine ebenso akkurate wie offensichtliche Bezeichnung, wenn es um Musik mit Texten geht. Wenn es nach Anna ginge, dann würde diese Bezeichnung aber für die meisten Aufnahmen treffend sein, auch für solche ohne Worte.
Anna: “Schon als Kind zogen mich die Harmonien und Texte alter Volkslieder an. Ich kannte die gesamten Lyrics von ‘Scarborough Fair’ auswendig, als ich vier Jahre alt war.  Matt spielte mir ‘The Night Visiting Song’ von Luke Kelly vor, und ich liebte das Stück sofort. Es besaß genau dieselbe Atmosphäre, und wir dachten beide, dass es ein guter Titel für das Album sein würde.”+
Anna Ternheim besteht darauf, dass alle Geschichten auch vom Ohr und Auge des Rezipienten abhängen. Deshalb legt sie Wert darauf, gewisse Dinge bewusst auszusparen, um zwischen den luftigen Schichten Raum für Interpretationen zu lassen. Das bedeutet keinesfalls, dass die Songs nicht voller lebhafter Bilder sind, die charmant mit Einfachheit verschleiert wurden. In dieser Beziehung mag der Song “Bow Your Head” das heimliche Paradebeispiel des Albums sein. Es ist eine eindringliche, epische Hommage an die Schönheit der Natur, den Tag mit einem Liebenden zu verbringen und sich vollkommen unbewusst zu sein, was die Zukunft bringen mag. In “Walking Aimlessly” möchte sich Ternheim nur treiben lassen, und sie erhofft sich, dass sich die Leute, wann immer sie das Lied hören, genauso treiben lassen und ihren eigenen sicheren Hafen im Raum schaffen. Und dann gibt es da noch Songs wie das Duett “The Longer The Waiting, The Sweeter The Kiss”, das von Pat McLaughlin geschrieben wurde und das Anna zusammen mit Dave Ferguson, dem Besitzer des Studios, in herzergreifender Aufrichtigkeit sang.
Dave Ferguson: “Wir waren im Studio, um uns erst einmal wirklich kennenzulernen, als Matt Sweeney mich an diesen Song erinnerte. Matt Sweeney ist einer der produktivsten Musiker der Welt. Ich hatte das Glück mit einigen ziemlich großartigen Leuten zu arbeiten … ich selbst bin ein ganz normaler Typ, aber Matt ist wirklich großartig. Ich sang die Nummer also, als wir dort zusammen saßen, und Anna gefiel sie. Sie fing sofort an mitzusingen. Es ist eines meiner absoluten Lieblingsstücke. Und ich liebe die Aufnahme, die wir von ihm gemacht haben! Jetzt braucht es niemand mehr aufzunehmen. Matt, Anna und ich haben entschieden, Anna in dem Song zum Skipper zu machen. Sie ist eine fantastische Skipperin! Ich kann es nicht abwarten, wieder mit ihr zu arbeiten. Eigentlich sollte ich das gar nicht Arbeit nennen …”
Das Album “The Night Visitor” sollte wunderbar sein. Es sollte aber auch eine gewisse Frechheit besitzen und mehr als alle vorausgegangenen Alben Ternheims eine Live-Atmosphäre ausstrahlen. Die Stimmen wurden deshalb mutig zusammen mit den Gitarren aufgenommen. Eine solche Chuzpe legen heutzutage nur noch sehr wenige Musiker an den Tag.
Anna: “Ich wollte diesem Album eine unmittelbare und zeitlose Qualität verpassen. Ich wollte, dass meine Stimme hervorsticht und dass die Instrumente wie Instrumente klingen. Es war absolut erstaunlich, mit Ferg, Matt und all den Musikern zusammenzuarbeiten. Der Klang steckte in den Studiowänden, in den Fingern und Hirnen dieser Leute. Kenny Malone ist der erste Schlagzeuger, der mich, bevor er einen Song spielte, um die dazugehörigen Lyrics bat, weil es ihm so leichter fiel, den ‘Herzschlag und die tiefere Bedeutung’ eines Stückes zu erfassen.”
Anna Ternheims viertes Album illustriert in gewisser Weise die Essenz ihres Wesens: sie ist eine alte Seele mit einem furchtlosen, fast schon kindischen Verlangen nach dem Unerforschten. Sie singt wie ein irdischer Engel von Niederlagen und Siegen, Bekannten und Gefährten, Leben und Tod.