Musikalische Meditationen über das Leben im Exil und Erinnerungen
Acht Jahre nach “Blue Maqams” meldet sich Anouar Brahem mit einem aufregenden neuen Projekt zurück. In der außergewöhnlichen Besetzung mit Oud, Cello, Klavier und Kontrabass präsentiert er auf “After The Last Sky” elf besonders bewegende Stücke.
Auf die Frage nach dem Wesen seiner künstlerischen Reise hat Anouar Brahem einmal mit einer Analogie geantwortet. Er verglich sie mit dem Wachstum eines Baumes, dessen Äste sich im Laufe der Jahre immer weiter über dem Boden ausbreiten, während sich seine Wurzeln tiefer und tiefer in den Erde graben. Dieses offene Streben nach allen Seiten lässt sich auch auf Brahems musikalisches Schaffen übertragen. Seit er 1991 mit “Barzakh” sein erstes Album bei ECM Records veröffentlichte, ist seine Musik zunehmend inklusiver und vielfältiger geworden. Obwohl die arabische Musik nach wie vor die wichtigste Inspirationsquelle des gebürtigen Tunesiers ist, hat er sich in seinen eigenen Alben für ECM (“After The Last Sky” ist mittlerweile sein elftes) und in zahlreichen anderen Projekten (u.a. mit Jan Garbarek und dem Orchestre National de Jazz) seit jeher mit Einflüssen und Idiomen aus aller Welt auseinandergesetzt. Das Spektrum reicht von improvisierter Musik einschließlich Jazz über die europäische Klassik bis hin zur zeitgenössischen Komposition. Entstanden ist so eine unverwechselbar eigene Musik, mit der er nun schon seit nunmehr 35 Jahren ein breit gefächertes Publikum in aller Welt in seinen Bann zieht.
“Besonders wandlungsfähig und anregend scheint mit heutzutage das Klangmaterial zu sein, das Tradition und Moderne verbindet,”, sagte Brahem kürzlich. “Die arabischen Maqams zum Beispiel, die den Kern meiner musikalischen Identität bilden, faszinieren mich wegen ihres melodischen Reichtums und ihrer Fähigkeit, sich in zeitgenössische musikalische Kontexte einzufügen. Sie bieten einen unendlich fruchtbaren Nährboden für Experimente. Ich finde es spannend, diese alten modalen Strukturen und harmonischen Ansätzen aus dem Jazz gegenüberzustellen und so einen Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Kulturen und Stilen zu schaffen.”
Auf “After The Last Sky” stehen Brahem erneut der Pianist Django Bates und der Bassist Dave Holland, die bereits 2017 auf dem Vorgänger “Blue Maqams” zu hören waren. An die Stelle des Schlagzeugers Jack DeJohnette ist die Cellistin Anja Lechner getreten, die auf dem Album gleich eine tragende Rolle übernimmt. Brahems musikalisches Einvernehmen mit Holland – erstmals 1998 auf dem Album “Thimar” dokumentiert – ist inzwischen legendär. “Daves Spiel verleiht mir Flügel”, sagte Anouar einmal. Und in der beeindruckenden Duo-Improvisation “The Eternal Olive Tree” wird dies hier bestätigt. Über das ganze Album hinweg, von den ersten singenden Tönen in “Endless Wandering”, einem vor Emotionen vibrierenden Stück, bis zum packenden Drive von “Dancing Under The Meteorites”, inspiriert Holland mit seinem beseelten Bassspiel Anouar Brahem zu einigen seiner faszinierendsten Darbietungen. Ein besonderes Vergnügen ist es auch zu hören, wie sich die vier Musiker mit ihren individuellen Stimmen dennoch zu einem homogenen Gesamtklang zusammenfügen. Dies zeugt sowohl von ihrem großen Einfühlungsvermögen als auch von der reichen Erfahrung, die jeder Einzelne in dieses Projekt einbringt. Das Auditorio Stelio Molo RSI in Lugano (in dem Brahem vor zehn Jahren bereits das Album “Souvenance” aufnahm) scheint mit seiner exzellenten und warmen Akustik der ideale Ort für dieses Quartett zu sein.
“After The Last Sky” ist übrigens das erste Album, auf dem Anouar Brahems Oud im Zusammenspiel mit einem Violoncello zu hören ist. Anja Lechner, die für eine klassisch ausgebildete Musikerin über ungewöhnlich viel Improvisationserfahrung verfügt, ist tatsächlich eine der führenden Stimmen auf diesem Album. Sie ist seit langem mit Anouars Kompositionen vertraut und hat einige von ihnen in ihren eigenen Konzerten aufgeführt. Mit dem Pianisten François Couturier, der bekanntlich selbst intensiv mit dem Oud-Spieler gearbeitet hat, nahm Lechner für ihr gemeinsames Duo-Album “Lontano” (2020) außerdem Brahems Komposition “Vague” auf, die hier auch das Programm von “After The Last Sky” beschließt. Das Cello hat auf diesem Album gewissermaßen das erste und letzte Wort. Es beginnt mit “Remembering Hind”, einer ergreifenden Trauermusik, die von Lechner im Duo mit dem Pianisten Django Bates vorgetragen wird und Hind Rajab gewidmet ist, einem fünfjährigen palästinensischen Mädchen, das während der israelischen Invasion des Gazastreifens getötet wurde. Den Abschluss des Albums bildet “Vague”, eines der beliebtesten Stücke Anouars, das er bereits für seine Alben “Khomsa” (1995) und “Le Voyage De Sahar” (2006) eingespielt hatte. Der sanfte Schwung dieser neuen Version erinnert an das Plätschern der Wellen am Strand des östlichen Mittelmeers.
Wie schon auf “Blue Maqams” spielt das Klavier von Django Bates auch diesmal wieder eine wichtige geduldig unterstützende Rolle. Der Brite, der auf seinen eigenen Aufnahmen (z.B. auf “The Study Of Touch” mit seinem Trio Belovèd) oft Swing, Humor und scharfsinnige dynamische Kontraste in den Vordergrund stellt, weiß, dass ein kontinuierlicher Fluss für die Entwicklung von Anouars Musik entscheidend ist. Aber sie bietet ihm auch immer wieder Raum für individuelle musikalische Statements. Ein schönes Beispiel dafür ist sein elegant perlendes Klaviersolo in dem verträumten Song “Awake”, das umso stärker wirkt, als er zuvor eher zurückhaltend agierte.
Der Titel des Albums ist dem Gedicht “The Earth Is Closing On Us” von Mahmoud Darwisch (1941–2008) entlehnt, der als “poetische Stimme des palästinensischen Volkes” bezeichnet wurde. Darin heißt es: “Where should we go after the last frontiers? / Where should the birds fly after the last sky?” (“Wohin sollen wir gehen nach den letzten Grenzen? / Wohin sollen die Vögel fliegen nach dem letzten Himmel?”). Diese Verse lieferten vor rund 40 Jahren schon einmal den Titel für das Buch “After The Last Sky: Palestinian Lives”, eine Meditation über Exil und Erinnerung des palästinensisch-amerikanischen Literaturkritikers und -theoretikers Edward Saïd. In den Liner Notes des Albums betrachtet Adam Shatz die Musik Anouar Brahems im Kontext dieses ästhetisch-literarischen Kontinuums sowie des andauernden Kampfes für die Rechte der Palästinenser, ein Thema, das Brahem bei der Vorbereitung des Materials für dieses Album beschäftigte. In diesem Sinne werden die Titel der Stücke für den interessierten Hörer zu Wegweisern, die er beachten sollte. Aber, wie Anouar im Gespräch mit Shatz erklärt: “Musik, und insbesondere Instrumentalmusik, ist von Natur aus eine abstrakte Sprache, die keine expliziten Ideen vermittelt. Sie zielt vielmehr auf Emotionen und Empfindungen ab, und wie sie wahrgenommen wird, ist von Mensch zu Mensch verschieden. Was bei dem einen Traurigkeit hervorruft, kann bei einem anderen Nostalgie auslösen… Ich lade die Zuhörerinnen und Zuhörer ein, ihre eigenen Emotionen, Erinnerungen oder Vorstellungen auf sie zu projizieren, ohne zu versuchen, sie zu ‘lenken’.”
Anlässlich der Veröffentlichung von “After The Last Sky” geht das Quartett auf eine Europatournee. Konzerte in Deutschland: