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Auf Streife im Netz: Ein Meteor am Jazzhimmel

Mit “Bird Songs” ist dem französischen Filmemacher Jean-Frédéric Thibault ein sehr einfühlsames Porträt von Charlie Parker gelungen, dem vielleicht größten Improvisationskünstler der Jazzgeschichte.
Auf Streife Im Netz: Charlie Parker, Bird Sings (2020) auf Arte
Auf Streife Im Netz: Charlie Parker, Bird Sings (2020) auf Arte
20.01.2022
Auch mehr als 65 Jahre nach seinem tragisch frühen Tod umgibt Charlie Parker immer noch eine geheimnisvolle Aura. Und viel dazu beigetragen haben seine zahlreichen Biographen, die bei dem Versuch, das Phänomen Charlie Parker zu erklären, ihn tatsächlich oft nur noch mehr mystifiziert haben. Einigkeit herrscht darüber, dass er einer der größten Improvisatoren und Altsaxophonisten war, die je auf Erden wandelten, ein ebenso komplexes wie widersprüchliches Musikgenie. So wurde er zu einem Helden der Intellektuellen, während er dem breiten Publikum ein ewiges Rätsel blieb. Jetzt gibt es bei ARTE eine neue Dokumentation des französischen Filmemachers Jean-Frédéric Thibault, die sich dem Musiker und Menschen Charlie Parker aus verschiedenen Blickwinkeln annähert. “Bird Songs” ist vielleicht gerade deshalb so gelungen und spannend, weil Thibault – wie er eingesteht – eigentlich wenig über Parker wusste, als er das Projekt in Angriff nahm: “Ich muss zugeben, dass mein Wissen über den Musiker sehr begrenzt war, und ich entdeckte [im Laufe der Produktion] nicht nur seinen unglaublichen Werdegang, sondern auch und vor allem die unauslöschlichen Spuren, die er in der Musikgeschichte hinterlassen hat.” 
“Meine ursprüngliche Idee war eine Art Film noir zu machen”, fährt Thibault fort, “so schummerig wie das New York der 1940er Jahre gewesen sein dürfte. Parker starb im Alter von 34 Jahren an Drogen- und Alkoholmissbrauch. Er war ein klassisches Opfer eines Systems, in dem Gewalt und Rassentrennung für Afroamerikaner zum Alltag gehörten. Mit Hilfe von Archivmaterial und Interviews wurde der Film jedoch immer weniger düster, bis er schließlich zu einem hellen und positiven Dokumentarfilm wurde.”
Ausführlich zu Wort kommen neben dem französischen Parker-Biografen Franck Médioni  und dem Pianisten René Urtreger, der in Paris mit vielen Zeitgenossen und musikalischen Partnern von Bird gespielt hat, Saxophonisten mehrerer Generationen: von Archie Shepp über Joe Lovano und Steve Coleman bis hin zu Géraldine Laurent und Antonin-Tri Hoang. Sie alle tragen mit ihren klugen, ebenso analytischen wie leidenschaftlichen Kommentaren dazu bei, ein schillerndes, menschliches Porträt von Charlie Parker zu zeichnen. Bird selbst ist zudem in einem raren Radio-Interview von 1954 zu hören, das kein Geringerer als Paul Desmond mit ihm geführt hatte. Da es nur wenige Filmaufnahmen von Parker gibt, ließ Thibault die Musiksequenzen durch Animationen illustrieren.
Als Inspirationsquellen dienten dabei die ikonischen Plattencover, die für die damalige Zeit ein sehr modernes Design aufwiesen, und auch Gemälde von Jean-Michel Basquiat, der Bird drei seiner Werke gewidmet hatte. Die Animationen vermitteln auf wunderbare Weise etwas von der Poesie und leichten Ungeschliffenheit, die Parkers Spiel kennzeichnete. Sie folgen dem musikalischen Rhythmus und spiegeln zugleich die Energie von Birds Improvisationen wider.
“Charlie Parker war ein Meteor am Jazzhimmel”, zieht Médioni gegen Ende Bilanz. “Er war nur zwanzig Jahre aktiv. Er lebte drei, vier Leben in einem einzigen. Nur allzu verständlich, dass er ein Anhänger des persischen Dichters Omar Chayyāmwar, der mit mystischen Worten sagte: 'Berauscht euch. Fliegt davon auf den großen Wegen.' Und das ist der Weg von Bird, dem Vogel mit den bleiernen Flügeln.”
Die deutschsprachige Version von “Bird Songs” kann bis zum 9. März in der ARTE-Mediathek abgerufen werden.
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