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Musikalische Seelenentblößung: Avishai Cohen auf der Suche nach der nackten Wahrheit

Auf “Big Vicious” unternahm Avishai Cohen zuletzt einen elektrifizierenden Abstecher in die Gefilde von Rock, Pop, Funk, Electronica und Ambient. Nun kehrt er auf “Naked Truth” zum akustischen Quartett-Format zurück.
Avishai Cohen
Avishai Cohen
23.02.2022
Die Musik für Avishai Cohens neues Album “Naked Truth” entstand im September 2021 bei einer bemerkenswerten Aufnahmesession in den Studios La Buissonne in Südfrankreich aus dem Augenblick heraus. Ohne dass es vorab geplant war, nahmen die neun Songs dort die Form einer improvisierten Suite an, die wie für einen Film Noir geschaffen zu sein scheint. Geprägt ist diese suchende und sehnsuchtsvolle Musik vor allem von der ungeschliffenen Schönheit und Verletzlichkeit von Cohens oftmals wehmütigem Trompetenklang. Zur Seite stehen Avishai hier drei langjährige Weggefährten – Pianist Yonathan Avishai, Bassist Barak Mori und Schlagzeuger Ziv Ravitz -, die sich untereinander intuitiv verstehen und hellwach auf die subtil wechselnden Akzente der Musik reagieren. Zum Abschluss des Albums rezitiert Avishai Cohen “Departure”, ein Gedicht von Zelda Schneurson Mishkovsky, dessen Themen – Abkehr, Akzeptanz und Loslassen – hervorragend zur Stimmung dieser Musik passen. Im Guardian bezeichnete John Fordham “Naked Truth” als “Cohens leisestes, aber vielleicht kühnstes Abenteuer” und schrieb: “'Naked Truth' ist eine knapp 40-minütige Miniatur eines Albums, auf wunderschöne Weise in Szene gesetzt und gelenkt von der Idee, dass improvisierende Musiker, die gut genug sind, jedem noch so überstürzten Bewusstseinsstrom zu folgen, viel mehr enthüllen können, wenn sie manchmal nur einen Bruchteil von dem, was sie wissen, spielen.”
Avishai beschreibt das Album als Ergebnis einer “zwei Jahre langen Meditation. Das Hauptmotiv von ‘Naked Truth’ ging mir seit dem Beginn der Covid-Pandemie durch den Kopf. Das aus acht Noten bestehenden Motiv, das am Anfang von ‘Part II’ zu hören ist, löste den gesamten Prozess aus. Ich würde nicht sagen, dass mich dieses Motiv ‘verfolgt’ hat, aber es hat mich die ganze Zeit hindurch begleitet. Und alles, was ich für dieses Album zusammengestellt habe, dreht sich um diese acht Noten und all die Möglichkeiten, die ihnen innewohnen.”
“Als ich mich damit auseinandersetzte, ergaben sich eine Menge anderer Fragen. So etwa die, was ich mit der Musik sagen möchte, oder besser: was ich mit ihr unbedingt sagen muss. Und der Prozess begann auch eine persönliche, emotionale Reise widerzuspiegeln.” Es entwickelten sich zwei parallele Geschichten, erklärt Cohen: zum einen die der Suche nach einem kompositorischen Rahmenwerk und zum anderen die der Suche nach etwas Existenziellerem.
“Bei früheren Alben, wie etwa ‘Into The Silence’, ging es bei der Musik vor allem um die Kompositionen. Aber bei diesem Album wollten die Melodien irgendwie nicht vor der Aufnahme niedergeschrieben werden. Und zur gleichen Zeit handelt die Geschichte definitiv nicht von den Soli…”
Bevor Cohen zu der Aufnahmesession in die Studios La Buissonne ging, gab es nur eine Probe und ein “Minikonzert” mit Yonathan Avishai und Barak Mori. “Dabei ergab sich eine Diskussion darüber, was zu spielen ist und was nicht.” Beispielsweise bat Avishai seine Kameraden darum, sich Aufnahmen des Bansuri-Flötenmeisters Harisprasad Chaurasia anzuhören, “der in meinen Augen so gut die Fähigkeit vermittelt, wie man alles und zugleich nichts außer dem Wesentlichen spielt”. Mit Schlagzeuger Ziv Ravitz sprach Avishai auch darüber, die perkussiven Details auf ein Minimum zu reduzieren. Es ging dabei nicht nur darum, einfach weniger zu spielen. Es war eine Aufforderung, zum gesteigerten emotionalen Ton und Fokus der Musik beizutragen. Ein gutes Beispiel dafür bietet hier “Part IV”.
Dadurch dass alles auf das Wesentliche reduziert wurde, um den seelenentblößenden Geist von “Naked Truth” hervorzuheben, entfalten kleine instrumentale Details eine große Wirkung. Wenn Avishai beispielsweise in “Part III” vom dämmerigen, sich vorsichtig vortastenden Spiel auf der gedämpften Trompete dazu übergeht, sein Horn ohne Dämpfer zu blasen, ist es, als ob plötzlich ein Suchscheinwerfer die Musik erhellt…
“Departure” ist ein vertontes Gedicht der israelischen Lyrikerin Zelda Schneurson Mishkovsky (1914–1984). Avishai führte das Stück erstmals im Rahmen eines gemeinsamen Projekts mit Danilo Pérez und Chris Potter auf, das ikonischen Frauen gewidmet war. Danach erkundete er den Song in seinen eigenen Bands noch eingehender. “Als ich das Gedicht zum ersten Mal las, haute es mich um.” Mit seinen Reflexionen über die Sterblichkeit und seiner fast schon buddhistischen Ausgeglichenheit (Zelda war orthodoxe Jüdin) bildet das von Avishai rezitierte Poem einen sehr passenden Abschluss für “Naked Truth”. Und so, wie es hier von dem Quartett umgesetzt wurde, stellt es zudem ein logisches Ende dar, auch musikalisch.
Schon im Mai wird das deutsche Publikum den israelischen Trompeter auch wieder live erleben können. Allerdings nicht mit dem Quartett von “Naked Truth”, sondern mit seiner eklektischen Band Big Vicious. Den ersten Gig spielt Big Vicious am 1. Mai im Jazzhaus Freiburg, ein zweiter folgt am 5. Mai in der Alten Feuerwache in Mannheim. Eine 180g-Vinyl-Version von “Naked Truth” wird voraussichtlich im Herbst 2022 erhältlich sein.
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