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Branford Marsalis – Braggtown

13.09.2006
Seit Branford Marsalis vor rund sechs Jahren sein Quartett mit Pianist Joey Calderazzo, Bassist Eric Revis und Schlagzeuger Jeff “Tain” Watts gründete, hat das Ensemble immer wieder neue Ausdrucksmöglichkeiten gefunden: mal bewies es einen geschärften Sinn für die Jazzgeschichte (etwa auf “Footsteps Of Our Fathers” von 2002 und der DVD “Coltrane’s ‘A Love Supreme’ Live In Amsterdam” von 2005), dann wieder sein Einfühlungsvermögen in andere künstlerische Disziplinen wie die Malerei (“Romare Bearden Revealed” aus dem Jahre 2003) oder einen profunden Sinn für intimes Zusammenspiel, wie auf dem 2004 veröffentlichten Balladenalbum “Eternal”. Das neue Album “Braggtown” zeigt die ganze Vielseitigkeit des Quartetts nun erstmals auf einer einzigen CD. Die Inspiration zu den Stücken dieses Albums lieferten u.a. ein englischer Komponist des 18. Jahrhunderts, ein indianischer Medizinmann, ein deutscher Komponist des 19. Jahrhunderts und ein japanischer Horrorfilm. “Braggtown” ist zugleich die bislang abwechslungsreichste und bezwingendste Einspielung des Branford Marsalis Quartet.
“Die Band wird einfach immer besser”, bestätigt der Saxophonist und Labeleigner Branford Marsalis. “Und dies ist auf die fortwährende Entwicklung jedes Einzelnen zurückzuführen, die man deutlich hören kann. Ich weiß, daß mein Ton sowohl auf dem Tenor als auch auf dem Sopran heute stärker fokussiert ist und daß sich meine Technik immens verbessert hat. Und dieselbe Art von Entwicklung kann man auch bei Joey, Revis und ‘Tain’ heraushören.”
 
“Das führt dazu, daß wir – wenn wir zusammenspielen – eine richtige Band mit einem eigenen Sound sind. Wenn man diesen Sound mit dem Klang von vor drei oder vier Jahren vergleicht, dann sind wir heuter wesentlich kompakter, explosiver. Das ist das ganz natürliche Wachstum einer Band, in der jeder daran arbeitet, besser zu werden.”
 
Um diese Entwicklung oder – wie Branford es nennt – dieses Wachstum ins Scheinwerferlicht zu rücken, wählte Marsalis aus dem gegenwärtigen Repertoire des Quartetts die stärksten neuen Songs aus, mit einem Schwerpunkt auf fetzig-kochende Nummern, wie sie das Quartett mit Vorliebe bei seinen Konzerten darbietet. Dieser Wunsch des Quartetts, sehr energiegeladene Musik zu spielen, manifestiert sich in drei kraftvollen Stücken, bei denen der Leader jeweils auf dem Tenorsax zu hören ist. Der Opener “Jack Baker” mit seiner treibenden dreitaktigen melodischen Form war das Ergebnis einer Unterhaltung zwischen Marsalis und Calderazzo. “Wir sprachen darüber, wie Musiker versuchen, Stücke mit einem ‘Coltrane-Sound’ zu schreiben. Ich war der Meinung, daß allzu viele Musiker einfach Skalen ohne die Blues-Licks benutzen, die Coltrane verwendet hätte. Es ist einfach, eine Tonleiter zu benutzen, aber wenn man so etwas spielt, kommt dabei keine Gruppenerfahrung zustande. Und darum geht es doch schließlich, wenn man etwas für eine Band schreibt. Also fing ich an zu schreiben, und dabei kam schließlich ‘Jack Baker’ heraus.”
 
Andere Beispiele für die energische Spielweise des Quartetts sind Jeff “Tain” Watts' “Blakzilla” (inspiriert wurde der Schlagzeuger durch Akira Ifukubes Musik für den 1953 gedrehten japanischen Horrorfilmklassiker “Godzilla”) und Eric Revis' Hommage an den legendären Indianerführer Black Elk, der 1876 Augenzeuge der legendären Schlacht am Little Bighorn war und mit dem Stamm von Crazy Horse nach Kanada flüchtete, um dort zu Sitting Bull zu stoßen.
 
Allerdings präsentiert sich das Quartetts auf “Braggtown” in zwei Stücken, bei denen Marsalis zum Sopransaxophon wechselte, auch von seiner einfühlsamen Seite: in Calderazzos wunderbarem Song “Hope” und Marsalis' “Fate”. “Ich habe in letzter Zeit viel Wagner gehört und habe bei einem seiner Leitmotive einfach mitgesungen. Daraus entstand die Idee für ‘Fate’”, erläutert der Saxophonist. “Später erfuhr ich dann, daß gerade dieses Motiv immer als das Schicksalsmotiv oder ‘Fatum’ bezeichnet wurde.” Marsalis' Faible für klassische Musik führte auch dazu, “O Solitude”, ein Opus des englischen Barockkomponisten Henry Purcell (1659–1695), für das Quartett zu bearbeiten. Komplettiert wird das Album durch eine weitere neue Marsalis-Komposition: “Sir Roderick, The Aloof” hatte Marsalis ursprünglich als Duett für Sopransax und Piano entworfen, dann aber doch für das kraftvolle Quartett umgeschrieben.
 
Wie alle bisher bei Marsalis Music erschienenen Alben ist auch “Braggtown” nicht nur musikalisch, sondern auch aufnahmetechnisch außergewöhnlich gut gelungen. “Wir haben das Album im Hayti Heritage Center in Durham/North Carolina aufgenommen. Dort entstand letztes Jahr auch schon ‘Occasion’, mein Duoalbum mit Harry Connick Jr.”, sagt Marsalis. “Das Hayti Heritage Center ist ein wunderbarer Aufnahmeraum, der den Klang des Albums hörbar prägt. Gemeinsam mit dem Toningenieur Rob Hunter entschied ich mich dafür, mehr den natürlichen Klang des Raumes zu nutzen und weniger mit Hall zu arbeiten. Deshalb klingt das Album auch weniger wie eine Studioproduktion.”
 
Marsalis ist sich der Tatsache bewußt, daß er mit solch kompromißlos ehrlicher Musik gegen den derzeitigen Trend bei Jazzaufnahmen schwimmt. Aber das schert ihn nicht weiter. “Leute, die Musik um ihrer selbst willen hören und aufmerksame Zuhörer sind, werden unsere Aufnahmen entdecken”, glaubt er. “Dies ist ein Album für Leute, die wirklich die Musik lieben und von ihr nicht einfach nur unterhalten werden wollen. Es gibt viel zuviele Menschen, die die Musik so benutzen wie das Fernsehen, als Unterhaltungsquelle und nicht als Lernmittel. Diese Sorte Leute wird mit unserer Musik natürlich nichts anfangen können. Denn wir wollen uns weiterentwickeln und nicht nur alte Muster bestätigen. Ich habe selbst einige Ausflüge in die Popkultur unternommen, dieses Kapitel für mich aber abgeschlossen. Ich bin bereit, die Konsequenzen für diese Entscheidung zu tragen.”
 
So lange die Konsequenzen dieser Entscheidung so aufregend klingen wie die Musik auf “Braggtown”, kann man Branford Marsalis und seinem Quartett nur gratulieren. Denn gerade Musiker wie er und seine Mitstreiter, also Musiker, die sich nicht um Konventionen und kommerzielle Konzepte scheren, haben den Lauf der Jazzentwicklung und -geschichte entscheidend geprägt.
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