Leipzig an einem der letzten sonnigen Herbsttage 2005. Der Saxophonist Branford Marsalis gastiert mit seinem Quartett bei den Leiziger Jazztagen. Anläßlich der Vertriebsübernahme von Marsalis Music durch Universal Jazz nutzte Felix Fast die Gelegenheit zu einem Interview mit Branford Marsalis. Der Saxophonist sprach dabei freimütig über sein Label, Jazz und Pop, Amerika und Europa, Schostakowitsch und Elton John.
JazzEcho: Herr Marsalis, Ihre Karriere gehört zu den bemerkenswertesten, aber auch den abwechslungsreichsten der jüngeren Jazzgeschichte. Gibt es heute etwas, das Sie rückblickend gern ausgelassen hätten?
Marsalis: Nein, ich bereue nichts von dem, was ich gemacht habe. Ich brauchte diese ganzen Umwege, sie haben mich zu dem gemacht, der ich heute bin. Alles in allem kann ich mich sehr, sehr glücklich schätzen, kein Opfer der Popkultur geworden zu sein. Die Popkultur ist ziemlich tragisch, weil sie dich zwingt, dich in sehr jungem Alter zu definieren, und dann hast du den Rest deines Lebens damit zu tun, das zu verteidigen oder nach dem nächsten Zug zu suchen, auf den du vielleicht noch aufspringen kannst. Die Musiker der 60er Jahre müssen immer die 60er verteidigen, die der 70er ihr eigenes Jahrzehnt und so weiter. Ich habe dafür gesorgt, niemals durch einen Musikstil oder eine Ära identifiziert zu werden. Dadurch kann ich immer weiter wachsen, weiter lernen und immer wieder meine Meinung ändern. Ich habe mit 22 Jahren Sachen gesagt, von denen ich damals total überzeugt war, aber jetzt kann ich sie dementieren, ohne es bereuen zu müssen. Ich muß nichts aufrecht erhalten, denn, ja, ich bin immer wieder ziemlich voreingenommen. Meine ganze Familie hat diesen Ruf, die Leute sagen das immer wieder. In dem Augenblick, in dem ich es sage, glaube ich fest an das, was ich sage – aber ich muß es später nicht krampfhaft verteidigen.
JazzEcho: Als Sie vor vier Jahren Ihr eigenes Label Marsalis Music gründeten, geschah das aus der Überzeugung, daß junge Musiker und speziell Jazzmusiker eine neue Chance angesichts der Gleichgültigkeit und des Pragmatismus in der Musikindustrie brauchten…
Marsalis: Daran hat sich nichts geändert. Die zwei Fragen, die Major-Labels bei neuen Pop-Künstlern stellen, sind: Wie alt sind sie und wie sehen sie aus? Es ist ihnen egal, wie sie klingen, selbst im Jazz immer mehr. Deswegen schicken mir Künstler, die sich bei mir bewerben, Lebensläufe und Bilder, ganze Mappen, als wenn das für mich irgendeinen Unterschied machen würde. Sie wissen nicht, was sie sonst tun sollen. Ich sage jungen Musikern immer wieder: Wenn ihr wirklich gute Musik macht, dann braucht ihr keine Visitenkarte oder Bilder oder Lebensläufe. Ich will eure Presse-Clippings nicht lesen. Man wird euch entdecken, wenn ihr echt seid. Aber weil die meisten Musiker zu wenig Vertrauen in ihre Fähigkeiten haben, nehmen sie den anderen Weg: Beziehungen, Anrufe, Backstage herumlungern, dieses ganze “Socializing”. Bei mir läuft das aber nicht. Als ich noch A&R bei Columbia war, schickte mir ein Bekannter aus Philadelphia ein Tape von einem schrecklichen Sänger, schlimme Musik, schlimmer Gesang und dann stylte sich der Mann noch wie ein Zuhälter aus “Shaft” – unglaublich. Der Bekannte rief mich an und wollte ein Meeting, ich sagte ihm, laß mal, vergiß es. Eher friert die Hölle zu, als daß ich diesen Typ unter Vertrag nehme. Er rief dann meinen Vorgesetzten an und der meldete sich bei mir und sagte: “Stimmt es, daß du mit XY kein Meeting willst? Das kannst du nicht machen, das ist nicht die Art, wie wir Geschäfte machen.” “Ihr wollt also, daß ich das Geld der Firma ausgebe, mit dem Typ essen gehe, lächle und ihm auf die Schulter klopfe, auch wenn wir jetzt schon keine Absicht haben, ihn zu signen?”, fragte ich ihn. Die Antwort war Ja, und das konnte ich nicht.
JazzEcho: Sie haben in anderen Interviews betont, daß sich die Kultur in Amerika immer mehr von der Kunst zum Entertainment verschiebt. Ist es in Europa besser?
Marsalis: Es war früher auf jeden Fall besser in Europa, aber jetzt auch nicht mehr. Was in Amerika – auf dem Business-Level – läuft, ist, daß man versucht die Massen zu bedienen, den kleinsten gemeinsamen Nenner zu bedienen. Und der ist nicht amerikanisch, der ist menschlich. Nimm als Beispiel das Fernsehen. Bis in die 80er Jahre hinein gab es in Deutschland nur staatliches Fernsehen, der Staat kontrollierte das Programm, und die Leute hatten die Wahl, entweder gutes Fernsehen oder gar kein Fernsehen. Also entschieden sie sich für gutes Fernsehen. Dann kamen die Privatsender und die Wahl war, gutes Fernsehen oder auch schlechtes Fernsehen, und sehr viele Leute entschieden sich für schlechtes Fernsehen: Autounfälle, Wrestling-Shows, Jerry Springer usw. So etwas mochten schon die Leute im alten Rom. Ich sage es allen europäischen Freunden, die immer sagen: Amerika ist scheiße, Europa ist toll – mittlerweile ist es überall ziemlich gleich.
JE: Wie sieht es mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner im Jazz aus?
Marsalis: Jazz ist auch nur ein Wort. Jazz an sich ist bestimmt nicht so populär, und wenn der Begriff Jazz momentan populär ist, habe ich da keinen Einfluß drauf. Sie wissen nicht, wie sie die Musik von Norah Jones sonst nennen sollen, Pop ist sie nicht.
JE: Jazz war auch mal Popmusik…
Marsalis: …als er Tanzmusik war, in den 30er Jahren.
JE: Und in den 50ern?
Marsalis: Nein, vom Sound her nicht. Nur weil da ein “straight ahead”-Beat läuft, ist irgendwas noch lange kein Jazz. Es gibt einen Riesenunterschied zwischen Louis Armstrongs “I Got A Right To Sing The Blues” aus dem Jahr 1939 und seinem “Hello Dolly” von 1960. Wenn Louis heute noch am Leben wäre, würde er dir das sehr gern selbst sagen: es war kein Jazz, es hatte nur Spuren von Jazz, weil er ein Jazzmusiker war. “Fever” von Peggy Lee ist kein Jazz. Das sind schöne Songs, ich liebe sie, aber sie sind kein Jazz. Ich will da auch gar nicht groß drüber diskutieren, mir ist das mittlerweile immer mehr egal. Ich las neulich ein Interview mit Jamie Cullum, in dem er sagte, daß das, was er macht, eigentlich kein Jazz ist. Er kann sowas nicht kontrollieren, und ich bin überhaupt nicht sauer auf Jamie Cullum. Wenn Sie aber wissen möchten, was meiner Meinung nach Jazz ist, hören Sie sich die CDs von meinem Label an.
JE: Suchen Sie nach einem bestimmten Sound?
Marsalis: Ja.
Jazzecho: Können Sie ihn beschreiben?
Marsalis: Nein, weil der Sound eines Musikers nur das Ergebnis seiner Einstellung zu dem ist, was er macht. Und darauf kommt es mir an: Ich suche für mein Label nach Musikern, die als Künstler wachsen wollen, ständig, von Jahr zu Jahr. Mich interessieren z.B. keine Musiker, die jedem Album ein anderes Thema geben: ungarische Volksmusik, dann eine Frank-Sinatra-Hommage… Mich interessieren Musiker, die auf der Suche nach ihren Fehlern, ihren Schwächen sind und sich verbessern wollen. Nimm Doug Wamble, du würdest seine Musik an sich vielleicht nicht Jazz nennen, aber der Prozess, durch den er geht, um seine Band zu verbessern, ist der Jazz-Prozess. Sie sind Jazzmusiker und die Art, wie sie an Songs herangehen, ist Jazz, die Art wie “Rockin' Jerusalem” auf Dougs neuem Album klingt, das würde ein Nicht-Jazzmusiker nicht hinkriegen. Doug ist ein Musiker, der hingebungsvoll daran arbeitet, besser zu werden, und der es nicht drauf anlegt, einen Hit zu landen und dann auf seinem Hintern sitzen bleibt und denselben Song immer wieder spielt. Wenn Doug einen Hit landete, würde er vielleicht sagen “Oh, nett. Mal sehen, ob sie die nächste Platte auch mögen.” Du findest heute nicht mehr viele solche Musiker, du findest viele, die darüber reden, aber mehr auch nicht. Es gibt bei Marsalis Music das Gebot, daß alle Musiker auf dem Label ständig auf Tour sein müssen. Eine Band zu haben, die nur dann und wann tourt, das gibt es bei mir nicht.
JE: Haben Sie noch andere Kriterien?
Marsalis: Nein, keine weiteren Kriterien und auch keine “affirmative actions”. Wenn Sie bedenken, wie wenig wirklich phänomenale Musik es gibt, wie soll ich mir es da leisten können, bestimmte Musiker zu diskriminieren oder zu bevorzugen.
JE: Sie haben den Ruf, der eklektischste Marsalis zu sein…
Marsalis: Oh, ich kann das schon nicht mehr hören. Es geht hier nicht um Eklektizismus, sondern mehr um Geschmack…
JE: Wo liegt da der Unterschied?
Marsalis: Mal ehrlich, Sie würden nicht wirklich gern ein Popalbum von Wynton hören wollen, oder? Es wäre schrecklich, nicht jeder kann das. Viele Jazzmusiker machen den Fehler zu denken, nur weil Pop musikalisch einfacher ist, kann jeder ein Popalbum aufnehmen. Das ist großer Quatsch, weil ein gutes Popalbum das gleiche Niveau an Überzeugungskraft und Leidenschaft benötigt, wie ein Jazzalbum. Wynton hat sich nie für Pop interessiert und er ist sich dessen bewußt. Warum sollte er also ein Popalbum machen? Ich war vielleicht der einzige in unserer Familie, der mit Pop groß geworden ist – ich spielte in drei Funkbands und überzeugte Wynton sogar einmal, in eine einzusteigen – The Mighty Creators hießen die, wir spielten Songs von Chicago und Elton John, alle sangen, keiner von uns konnte singen, keiner von uns konnte spielen. Die Elton-John-Songs waren harmonisch ganz schön schwierig. Elton schreibt großartige Songs, sie sind universell, wie sonst wenige Popsongs. Einen guten Popsong erkennt man daran, daß er auch noch gut klingt, wenn man ihn umarrangiert oder das Tempo ändert. Die meisten Popsongs funktionieren nur in der Originalversion. Elton John trat mal in der Jay-Leno-Show auf und spielte da seinen schlechtesten Song, “Philadelphia Freedom”, als Gospel, das war unglaublich.
JazzEcho: Man hat den Eindruck, die Künstler auf Marsalis Music sind von selbst zum Label gestoßen, viele kannten Sie vorher schon länger…
Marsalis: Harry Connick Jr. kenne ich schon mein ganzes Leben lang, er war ein Pianoschüler meines Vaters und jammte mit Wynton, später war auch er bei Columbia. Doug war ein Freund von meinem Bruder Jason, er kam immer vorbei, wenn Jason zuhause war. Doug ist ein Riese, ich dachte, er müßte Baß spielen und nicht Gitarre. Dann beeindruckte er mich mit seinem breiten musikalischen Wissen. Er kannte einen Haufen Jazzstücke, aber auch Country & Western, Bluegrass, Mississippi Delta Blues. Doug wußte genau, was er wollte: Einem anderen Label, das sein Debüt veröffentlichen wollte, gegenüber weigerte er sich, bestimmte verkaufsfördernde Stars mit aufs Album zu nehmen. Sie kennen das, dann klebt man Sticker auf die CD: “Joe Lovano, Brian Blade, Branford Marsalis spielen mit auf dieser CD”. Er hatte eine Band, von der noch niemand je etwas gehört hatte, und die wollte er. Punkt. Das gefiel mir schon mal. Er schickte mir eine CD und die gefiel mir auch, vorwiegend Versionen von Popsongs, sehr cool umarrangiert. Meine Frau, sie ist kein wirklich großer Musikfan, rief durch die Tür: Das ist total gut, wer ist das? Also rief ich ihn an.
JazzEcho: Wie war es bei Miguel Zénon?
Marsalis: Miguel Zenón spielte auf einer David-Sanchéz-CD, die ich produzierte. Man merkt, daß er viel Steve Coleman gehört hat, aber während Steve Colemans Herangehendweise sehr mathematisch ist, bringt Miguel diesen Sound in ein melodischeres Format. Das ist echt schwer und das beeindruckte mich.
JazzEcho: Sie haben eine gewisse Bandbreite auf Marsalis Music: Harry Connick Jr. gilt als Star und als Überflieger zwischen Funk, Hollywood und Jazz. Wamble hat dagegen dieses Underground-Blues-Image und Miguel Zenón bringt Latin und den Steve-Coleman-Sound zusammen. Machen Sie sich manchmal konzeptuelle Gedanken für Marsalis Music?
Marsalis: Überhaupt nicht! Große Musiker haben ihr eigenes Konzept, wenn sie mich dafür bräuchten, wären sie nicht gut.
JazzEcho: So einfach ist das?
Marsalis: Die meisten Label gehören Leuten, die selbst keine Musiker sind, es aber insgeheim gern wären. Also sagen sie den Musikern, was sie spielen sollen, um dazuzugehören. Ich kann selbst spielen, ich brauch das nicht, ich ruf die Künstler auf meinem Label an und laß sie machen. Ich muß auch nicht alles produzieren. Harry hat seinen eigenen Produzenten, manchmal greife ich ein, wenn der Sound nicht stimmt. Auf Harrys letztem Album, auf dem ich auch mitspiele, war der Piano-Sound zu mulmig. Ich will auf meinen Platten die Instrumente so klingen lassen, wie sie wirklich klingen, so wie sie in klassischer Musik aufgenommen werden, da sind sie gut drin: Pianos klingen wie Pianos, Violinen wie Violinen und so weiter. In akustischer Musik gibt es nichts Besseres, aber nur wenige Jazzmusiker verschwenden an so etwas überhaupt einen Gedanken. Mein Vater schaute mich einmal an, als käme ich vom Mars, als ich darüber redete.
JE: Wie gefällt Ihnen der ECM-Sound?
Marsalis: Mir gefällt der ECM-Sound auf einer Menge von Platten. Auf “Belonging” von Keith Jarrett mit seiner europäischen Band zum Beispiel, auch auf “My Song”. Auf Jarretts erstem Soloalbum, “Facing You”, experimentierte Manfred Eicher allerdings noch. Aber dann klingen die Klassik-Aufnahmen von Jarrett wieder herrlich, etwa das “Wohltemperierte Klavier”. Eicher macht einen großartigen Job.
JE: Ich höre in Ihren Antworten immer wieder das Wort Klassik…
Marsalis: Weil ich im Moment ziemlich viel Klassik höre. Klassische Musik ändert gerade die Art und Weise, wie ich Musik höre, wie ich schreibe, sie ändert meinen Blickwinkel auf meine Band. Ich bin einfach gegen jede Art von Uniformität. Die Musik, die jemand macht, sollte nicht immer gleich klingen, auch wenn das vielleicht der Schlüssel zum Erfolg sein mag, zu finanziellem Erfolg. Die Leute lieben das, weil sie sich dann nicht dumm vorkommen. Es fordert sie niemand heraus. Aber wir als Musiker sollten danach streben, die Leute herauszufordern, wenn wir versuchen, uns als Musiker zu verbessern. Wir haben den Vorteil, den ganzen Tag Musik hören zu können. Normale Menschen haben normale Jobs und spielen keine Instrumente. Daher sollte sie unsere Musik erstaunen, herausfordern und manchmal aufrütteln, so sehe ich das.
JE: Aufrütteln? Die Marsalis Familie gilt doch als konservativ…
Marsalis: Jeder große Künstler versteht sein Handwerk, egal in welchem Bereich. Van Gogh und Rembrandt malten Stilleben, Porträts. Heute ist die Einschätzung, was große Kunst ist so selbstverliebt, so maßlos. “Fuck the tradition”, sagen sie, “die Tradition ist jetzt.” Das findest du im Jazz, das findest du überall, ein großer Egotrip. “Was ist mit mir? Hier geht es jetzt um mich!” “John Coltranes Musik ist zu schwer, also spielen wir sie nicht.” Als wir erstmals “Love Supreme” (“Footsteps Of Our Fathers”, 2002) aufnahmen, haben sich so viele Leute irrsinnig aufgeregt: “Wie kann er das wagen?!” Aber von den Leuten, die diese Musik wirklich spielen können, regte sich keiner auf, nicht Alice Coltrane, auch nicht McCoy Tyner. Sie fragten uns auch nicht, warum wir sie spielten? Sie wußten, warum wir dieses Album aufnehmen wollten. Wir wollen besser werden. Die Leute, vor allem in Amerika, verwischen alle Spuren, es ist absurd.
JE: Was meinen Sie mit “Spuren verwischen”?
Marsalis: Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Vor einiger Zeit saß ich im Flieger neben einem anderen Amerikaner. Ich hörte Schostakowitschs “Siebte Sinfonie”. Der Typ fragte mich, was ich da hörte, und ich antwortete ausweichend “klassische Musik”. “Oh, ich fahr voll auf Klassik ab, ich kenn mich da aus”, meinte er. “Ach so, tja, ich höre Schostakowitschs ‘Siebte Sinfonie’.” “Schostaschosch…”, dachte er nach, “…ich glaube, ich kenne ihn nicht. Sag mal, wie findest du denn Paul McCartneys ‘Oratorium’?” Ich hatte Paul McCartneys “Oratorium”, weil es bei Columbia erschienen war, und sagte: “Hmm, es ist nicht wirklich gut, aber es war nett, daß er es gemacht hat.” Da regte sich mein Sitznachbar auf: “Wie meinst du das, es ist nicht gut?” “Ich denke, du bist Klassikfan”, erwiderte ich. “Es war halt nicht wirklich gut!” Sie verwischen die Spuren, und dadurch verschiebt sich, was Kultur ist und was nicht. Schostakowitsch? Beethoven? Bruckner? Wer sind die denn? Brahms? Wer? Paul McCartney! Ah, ja! Er schreibt tolle Popsongs und dann ist er auch noch ein toller klassischer Komponist, alles ein Einem. Das ist die Mentalität. Ich sagte zu dem Mann: “Warum hörst du dir nicht mal ein paar andere Oratorien an, von Bach oder Mozart oder Strawinski…?” “Ach, laß mich!”, war die beleidigte Antwort. So wird Kultur, so wird auch Jazz von solchen Leuten neu definiert, und sie wissen insgeheim, daß das, was sie da sagen, ziemlicher Blödsinn ist. Deswegen regen sie sich auch so auf. Es geht nicht darum zu lernen, es geht darum zu sagen: Wenn ich das gut finde, dann ist es gut!
JE: Die Menschen werden oberflächlicher…
Marsalis: Was du für Klamotten trägst, was du für ein Auto fährst, was du für Produkte kaufst, was du für Musik hörst, wo du lebst – das sind heute in Amerika mehr denn je die Metaphern, die dich als Person definieren. Für mich ist ein Auto ein Auto, es fährt, ich habe einen Saab, die sind zuverlässig, aber es ist kein Statussymbol für mich. Deine politische Orientierung ist ein Statussymbol, die Klamotten, die du anhast, und auch die Musik, die du hörst. Es geht nicht mehr um diese Dinge an und für sich, sondern um sie als Metaphern. Wenn einer sagt: Ich mag die Beatles und der andere sagt: Ich nicht! Dann geht es nicht mehr um die Beatles als Band sondern um die Beatles als Metapher: Auf welcher Seite stehst du? Wenn du die Beatles nicht magst, gehörst du nicht zu mir, bist du gegen mich, leck mich! Das zieht immer weitere Kreise und alles wird darin aufgesaugt: Der Krieg im Irak....
JE: Hurrikan Katrina? [Marsalis wuchs in New Orleans auf, im August 2005 gründete er den Hurricaine Katrina Musicians Relief Fund, eine Hilfsorganisation für Musiker aus New Orleans, deren Wohnungen zerstört wurden.]
Marsalis: Eine Metapher. Auf welcher Seite stehst du? Reich oder arm, Republikaner oder Demokrat, schwarz oder weiß? Das eigentlich Wesentliche geht verloren, der Inhalt. Darüber redet kaum jemand, nur darüber, wer Recht hat.
JE: Was ist die Lösung? Bildung?
Marsalis: Bildung? Nein! Als mein Vater an der Highschool lehrte, fragte er seine Studenten zu Beginn des Semesters: “Wer von euch möchte hier eine gute Ausbildung bekommen?” Alle Hände schossen in die Luft. “Wer von euch ist hier, um etwas zu lernen?”, fragte er dann, und die Hände gingen weitaus zögerlicher nach oben, die Kids wußten nicht, was sie mit der Frage anfangen sollten. Ausbildung bedeutet in Amerika nicht, etwas zu lernen, es geht darum, Tests zu bestehen. Wenn du dich in Amerika um einen Job bewirbst, sind die Standardfragen: Wo kommst du her? Wo bist du geboren? Wo warst du auf der Highschool? In welchen AGs warst du? Bist du in einer Organisation? Keiner fragt: Kannst du diesen Job machen? Deswegen schicken mir diese ganzen Musiker ihre Lebensläufe und Businesskarten, wir sind so aufgewachsen. Das ist der Hauptgrund, warum ich Musik mit Sport gleichsetze. Im Sport fragt dich keiner diese Dinge, wenn du dich um einen Job bewirbst. Es ist egal, auf welche Schule einer gegangen ist, was er für eine politische Orientierung hat. Im Sport wird gefragt: Kannst du rennen, kannst du springen, kannst du fangen? Und ich frage in der Musik: Kannst du spielen? Das ist sehr darwinistisch, es geht nicht um Enthusiasmus, sondern um Können.
JE: Ist Musik, anders als Sport, denn nicht weniger meßbar?
Marsalis: Ich glaube doch. Mozart war besser als seine Zeitgenossen, hör Dir alle Kompositionen seiner Zeit an, und du wirst feststellen, er war besser.
JE: Was, wenn man keine Zeit dazu hat?
Marsalis: Dann sollte bestimmen, was dich bewegt, und zwar immer. Ich bin kein Missionar. Musik hören zu lernen ist nicht einfach und erfordert viel Zeit. Leute mit Jobs und Kindern haben diese Zeit nicht, und ich schlage ihnen auch nicht vor, sich diese zu nehmen. Aber als Musiker sollten wir uns die Zeit nehmen. Wir sollten uns keine Laienphilosophie erlauben. Wir müssen analytisch sein, es ist nicht vorgesehen, daß alle Erster werden, und darum geht es auch nicht. Laß dich auf den Prozess ein, gib alles und akzeptiere das Resultat, egal wie es ausfällt. Viele Musiker wollen lieber berühmt und mittelmäßig sein, als unbekannt und wirklich gut, ich hab das immer wieder gesehen, als ich an der San Francisco State University unterrichtet habe. Anstatt ihre Zeit dazu zu nutzen, zu üben, zu lernen und die Tradition zu studieren, überlegen sie, wie sie einen Job bekommen können. Meine Philosophie ist, wie gesagt: Wenn du wirklich gut bist, bekommst du schon den Job. Aber davon wollen sie nichts hören. Manche haben Angst, alles zu geben und dann herauszufinden, daß sie tatsächlich gar nicht so gute Musiker sind. Sie haben Angst vor dieser Stunde der Wahrheit und meiden sie. In den meisten Karrieren gibt es Leitern, in der Musik nicht, es gibt keine solche Garantie für den Erfolg. Aber sie wollen eine Garantie, und überlegen, wie sie’s anstellen sollen, was für einen Sticker sie auf ihre CD kleben sollen, wer ihre Zielgruppe ist usw. Und das funktioniert einfach nicht.
JazzEcho: Na ja, oft ja doch…
Marsalis: Am Ende nicht. Überlegen Sie mal: Der letzte große Hit-Künstler, den Columbia hatte, war Mariah Carey, sie verkaufte Hundert Millionen Platten, das war vor zehn Jahren. Auf der einen Seite brachte sie der Firma viel Geld. Wenn man aber zusammenrechnet, wie viel Geld Columbia in sie und diese Art von Künstlern investiert hat – von vielen hat man nie etwas gehört -, was sie für die ausgegeben haben: Tanzstunden, Fitness-Trainer, Video-Regisseure und so weiter, und es hat nicht funktioniert – dann kommt plus minus Null heraus. Keine Major-Plattenfirma sagt: Wir warten, bis der einzigartige Künstler kommt. Und dann kommt irgendwann Mariah Carey. Nein, sie signen wild durch die Landschaft. Sie schießen ins Blaue hinein und hoffen ins Scwarze zu treffen. Jeder, den sie unter Vertrag nehmen, soll der nächste große Star werden, jeder: John Smith, der neue Superstar! John Smiths CD erscheint, keiner kauft sie und schon ist er wieder weg vom Fenster, sie schmeißen ihn sofort raus. Es sollte nur um Musik gehen. Im Jazz kommen alle diese Kids aus den Music Colleges, sie spielen alle schnell, klingen alle gleich. Sie machen drei Jazzalben und das nächste wird dann schon ein Funk-Album. Und dafür gibt es auch kein Publikum. Ehrlich gesagt, litt ich selbst auch darunter, als ich mein “Buckshot LeFonque”-Album aufnahm. Die HipHopper mochten unsere Rapper nicht, die Jazzleute standen überhaupt nicht drauf, was blieb, waren trendy Acid Jazz-People und einige wenige, die die Musik um ihrer selbst willen mochten, und für die haben wir gespielt. Dann kamen die Medien und sagten: Wir glauben, sie haben einen neuen Stil geschaffen. Oh Mann! Sie sagten dasselbe über DJ Premier, und der schüttelte auch nur den Kopf. Und dann gingen sie zu irgend jemand anders und der sagte dann endlich: Ja, genau, ich hab gerade einen neuen Stil erfunden, er heißt HipHop-Jazz. So läuft das, aber beim Musikmachen darf es nicht um solche Dinge gehen, das möchte ich mit dieser Geschichte illustrieren. Mach nie den Fehler, dich für Leute zu definieren, die vorgegebene Definitionen brauchen und dann entscheiden, ob du zu einer ihrer Metaphern wirst oder nicht.
JE: Was schützt Sie selbst davor?
Marsalis: Ich liebe Musik. Musik bewegt mich. Mein Musikgeschmack ist spezifisch, ich schieße nicht ins Blaue, ich höre nichts aufs Geratewohl.
JE: Sie haben als Musiker auch schon einige Soundtracks gemacht. Werden Sie Soundtracks auf Marsalis Music heraus bringen?
Marsalis: Nein.
JE: Warum nicht?
Marsalis: Du kannst mit einem Budget von 40.000 Dollar eine sehr anständige Jazzplatte produzieren. In einem Film kommst du mit 40.000 Dollar nicht sehr weit. Wenn du für ein Projekt angeworben wirst, das zehn, zwölf Millionen Dollar kostet, dann wollen sie jedes Detail dieser Produktion kontrollieren. Heutzutage gibt kaum noch einen Filmproduzenten, der einem Filmkomponisten eine Carte Blanche gibt.
JE: Wie sieht’s mit Spike Lee aus?
Marsalis: Spike ist genauso. Auf den Rough-Cuts ist heute immer schon sogenannte “Source Music” drauf. Wenn du smart bist, schreibst du einfach so ähnlich, wie die ist. Das interessiert mich nicht. Ich will schreiben, was ich höre, wenn ich einen Film sehe, aber ich verstehe den Druck, unter dem ein Filmproduzent steht. Ich halte mich da lieber raus. Mit Spike war es allerdings lustig, ich trieb ihn zur Weißglut. Als ich den Score zu “Mo’Better Blues” schrieb, befanden wir uns in den späten 80ern, digitale Technologie war noch nicht so richtig verbreitet. Ich war in Europa auf Tour, er rief mich im Hotel an und sagte, er bräuchte Musik für seinen Film – sofort. Ich antwortete: “Wo soll ich die herholen, aus meinem Hintern? Ich bin auf Tour, ich sehe deinen Film jeden Tag, die Musik ist in meinem Kopf schon zur Hälfte fertig.” Er mußte mir blind vertrauen, was ihn wahnsinnig machte. Als ich zurück war, kam er ins Studio, ich war gerade dabei, einige Sheets zu schreiben, hatte schon alles im Kopf – und er flippte völlig aus, weil er dachte, ich finge gerade erst an. “Was? Jetzt schreibst du erst die Musik?”, schrie er mich an. Film ist anders: Machen, Angucken, Wiederholen usw. Als er die ersten Takes hörte, entspannte er sich. Danach blieben wir Freunde, aber ich möchte mich nie wieder von einem Filmproduzenten, Spike oder sonstwem, so herummanagen lassen. Am meisten Glück hatte wahrscheinlich noch John Williams, Spielberg vertraut ihm und läßt ihn machen. Die meisten anderen schreiben denselben Score immer wieder, Hans Zimmer zum Beispiel. Das ist, was sie wollen. Wenn du einmal den Sound gefunden hast, den sie mögen, geben sie dir ernsthaftes Geld, damit du das immer wieder für sie machst. Sie nehmen deinen letzten Soundtrack als “Source Music” und beauftragen dich dann. James Horner hat tolle Soundtracks gemacht, ich spiele Sopransaxophon in seiner Musik zu “Sneakers”. Und dann macht er “Titanic” und benutzt diese Scheiß-Pennywhistle und jetzt muß der arme Kerl in jeden Soundtrack so eine Pennywhistle einbauen, so läuft das nun mal. Sie geben ihm drei Millionen Dollar, wenn er den Titanic-Soundtrack immer wieder schreibt, und sie würden ihm keine zehn Dollar geben, wenn er schriebe, was er eigentlich gerne schreiben würde. Alles hat seinen Preis. Jerry Seinfeld muß für den Rest seines Lebens auf Bananenschalen ausrutschen. Das einzige, was hilft, ist, dieses Spiel nicht mitzuspielen, nicht in diese Arena zu steigen.
JE: Stehen Sie nicht unter Druck, mit Marsalis Music Platten zu verkaufen?
Marsalis: Das Label kostet viel Geld, das wußte ich, als ich anfing. Ich habe Glück. Ich bin in New Orleans geboren, in meiner Familie ging es nie um Geld. Mir ist Geld egal. Ich kümmere mich sehr wenig um die Business-Seite von Marsalis Music, das macht meine Partnerin. Ich gebe ihr Geld und vertraue ihr. Ich mache Platten, finde Musiker und mache Platten. Meine Frau verzweifelt, aber das ändert nichts. Als ich 35 wurde, rief meine Mutter an und fragte: Branford, wie fühlst du dich mit 35? Ich sagte ihr: Mom, es kann sein, daß mein Leben halb zuende ist. Wenn ich am Ende nur sagen kann, daß ich Kohle gemacht habe, dann werde ich mir wie ein Versager vorkommen. Geld scheffeln kann ich nicht, ich gebe es aus, mache mehr und sterbe pleite. Marsalis Music ist großartig, die Musiker sind großartig und wir schmeißen da weiterhin Geld hinein (lacht).
— — — — — — — — — — — —
Zur Person:
26. August 1960: Branford Marsalis kommt in Breaux Bridge, Louisiana zur Welt.
1980: Nach seinem Studium an der Berklee School of Music spielt Branford Marsalis in der Art Blakey Big Band, später auch Blakeys Jazz Messengers.
1982–84: Branford spielt im Quintett seines Bruders Wynton und wird von den Medien zum “Jungen Löwen” getauft, tourt dann mit Herbie Hancocks V.S.O.P.II und spielt auf Miles Davis' “Decoy”-Album.
1983: Branfords Solo-Debütalbum “Scenes In The City” erscheint bei Columbia.
1985: Sein Eintritt in die Band von Sting schafft Kontroverse und großartigen Pop auf den Alben “Dream Of The Blue Turtles”, “Nothing Like The Sun” und “Bring On The Night”. Kurz darauf gründet er seine eigene Band mit Pianist Kenny Kirkland und Drummer Jeff “Tain” Watts, mit dem er heute noch spielt.
1992: Nach Mitwirkung in Filmen wie “School Daze” und “Throw Mama From The Train” wird Marsalis als Bandleader von Jay Lenos “Tonight Show” omnipräsent.
1994: Sein “Buckshot LeFonque”-Album gehört zu den Highlights des Dancefloor-Jazz.
1997: Marsalis ist A&R-Manager bei Columbias Jazzabteilung und bringt Künstler wie David S. Ware zum Label.
2000: Mit dem Album “Contemporary Jazz” gewinnt Marsalis seinen dritten Grammy.
2002: Marsalis gründet sein eigenes Label Marsalis Music, bei dem im selben Jahr das Tribute-Album “Footsteps Of Our Fathers” seines Quartetts erscheint. Zusätzlich doziert er an der San Francisco State University.
2005: Erscheinen neue Alben von Gitarrist Doug Wamble, Pianist Harry Connick Jr. und Altsaxophonist Miguel Zenón bei Marsalis Music.