Marsalis bei Blue Note – wie man aus einem Meisterwerk ein zweites macht
Mit einem außergewöhnlichen Projekt, der kompletten Neuinterpretation von Keith Jarretts Albumklassiker “Belonging”, schlägt Saxofonist Branford Marsalis bei Blue Note ein neues Kapitel auf.
Branford Marsalis Quartet(c) Zack Smith
27.03.2025
Branford Marsalis gehört nicht zu den Musikern, die ausgetretene Pfade beschreiten und das Risiko scheuen. Das hat der Saxofonist in den 45 Jahren, in denen er in der internationalen Musikszene aktiv ist, immer wieder unter Beweis gestellt. Sei es mit eigenen Projekten wie der Band Buckshot LeFonque, die auf innovative Weise Jazz mit Einflüssen aus Rock, Pop, Rhythm’n’Blues und Hip-Hop mischte, sei es durch seine populären Kollaborationen mit Pop- und Rockgrößen wie Sting, Grateful Dead und Stevie Wonder. Um sich größtmögliche kreative Freiheit zu sichern, gründete der Saxofonist 2002 sein eigenes Label Marsalis Music, auf dem er seither neben neun eigenen Alben auch Aufnahmen von Harry Connick Jr., Miguel Zenón und Claudia Acuña veröffentlicht hat.
Mit “Belonging”, seinem Debütalbum bei Blue Note Records, scheint Branford Marsalis nun ein neues Kapitel in seiner bewegten Karriere aufschlagen zu wollen. Und er beginnt es mit einem wahrhaft außergewöhnlichen Projekt: einer kompletten Neuinterpretation von Keith Jarretts gleichnamigem ECM-Klassiker, mit dem der amerikanische Pianist 1974 sein “European Quartet” mit Jan Garbarek, Palle Danielsson und Jon Christensen vorstellte. Begleitet wird Marsalis bei diesem überraschenden Abenteuer von den Musikern seines eigenen exzellenten Quartetts, mit denen er seit über 15 Jahren in unveränderter Besetzung zusammenarbeitet: dem Pianisten Joey Calderazzo, dem Bassisten Eric Revis und dem Schlagzeuger Justin Faulkner.
Keith Jarretts “Belonging” gilt als ein Album der Superlative. Zumindest wenn es nach dem schottischen Trompeter und Jazzkritiker Ian Carr geht, der in seiner 1991 erschienenen Jarrett-Biografie schreibt: “Das Album gehört zu den größten Quartett-Aufnahmen des Jazz, weil alles daran überragend ist: die Kompositionen, das frei fließende Zusammenspiel, das Maß an Inspiration und die brillant fokussierten Improvisationen aller vier Musiker”. Marsalis sieht das ganz ähnlich. “Das Beeindruckendste an ‘Belonging’ ist für mich, wie alles zusammenpasst”, sagt er. Ein solch ikonisches Album völlig neu zu interpretieren, ohne dem Original in sklavischer Treue zu folgen oder ins andere Extrem zu verfallen und es komplett zu dekonstruieren, ist alles andere als ein leichtes Unterfangen. Doch Marsalis’ Quartett ist dafür bestens gerüstet, hat es dies doch bereits mit Repertoire von Charles Mingus, dem Modern Jazz Quartet und John Coltrane getan.
Als “Belonging” 1974 erschien, hatte der damals 14-Jährige nur Ohren für ganz andere Musik. “Ich war ein Freshman an der High School und hörte R&B”, erinnert er sich. “Ich wusste nicht einmal, dass es ‘Belonging’ gab.” Das änderte sich erst viele Jahre später, als Kenny Kirkland, der erste Pianist in Marsalis’ 1986 gegründetem Quartett, ihn mit Keith Jarretts “European Quartet” bekannt machte. “Irgendwann in den Achtzigern saßen wir in einem Flugzeug, und Kenny setzte mir seine Kopfhörer auf und spielte [Jarretts 1979er Album] ‘My Song’. Als er nach fünf Minuten die Kopfhörer zurückhaben wollte, schlug ich seine Hand weg. Und als wir in der nächsten Stadt ankamen, ging ich los und kaufte jede Aufnahme dieser Band”.
Auf “Belonging” interpretieren Marsalis und seine Mitstreiter die oft wunderbar eingängigen, teils von Gospel und Country-Blues geprägten Kompositionen Jarretts mit viel Fingerspitzengefühl neu. Während sie die bekannten Themen nahezu unangetastet lassen, gehen sie in den Soloparts neue Wege und lassen geschickt Elemente aus ihrem eigenen musikalischen Hintergrund einfließen. “Der größte Vorteil, den wir haben, sind 50 Jahre an Informationen, die Keiths Band nicht hatte”, sagt Branford Marsalis, “und unsere Fähigkeit, diese gemeinsamen Erfahrungen zu verarbeiten. Ein Beispiel: Als wir ‘Long As You Know You’re Living Yours’ aufnahmen, fragte mich Justin, wie wir vorgehen würden. Ich sagte ihm nur zwei Worte: ‘James Gadson’ [er ist der meistaufgenommene Schlagzeuger in der Geschichte des R&B], und er wusste sofort Bescheid. Es geht nicht nur darum, die Referenz zu kennen, sondern man muss wie Justin in der Lage sein, verschiedene Spielweisen zu integrieren. Eric wusste auch gleich, um welche Art von Groove es ging. Etwas im Geiste von ‘Donny Hathaway Live’”. In “The Windup” wiederum zitiert der aus New Orleans stammende Marsalis in seinem Solo an einer Stelle den Mardi-Gras-Klassiker “The Second Line”, was von den drei anderen Musikern mit einem begeisterten “Yeah” quittiert wird.
Branford Marsalis und sein Quartett beweisen mit „Belonging“, wie die liebevolle Auseinandersetzung mit einem bewunderten Werk und die Freiheit des Jazz ein neues, ebenfalls eindrucksvolles Werk erschaffen können.