In den frühen 90er Jahren befand sich die Jazzmusik im eisernen Griff einer Diktatur: Die Jazzpolizei patrolierte durch die Szene, machte Razzien und verurteilte summarisch jede Art von Jazz, die auch nur entfernt so klang, als wäre sie nach 1967 entstanden, nicht auf dem Blues basierte oder – helf uns Gott! – elektrifiziert war. Was die konservativen Kontrolleure damals noch nicht ahnten, war, daß es im norwegischen Untergrund einen verrückten Klangwissenschaftler gab, der in seinem versteckten Labor heimlich am Umsturz der Konventionen arbeitete. Der Mann hatte eine grandiose Vision von einer neuen Art von Jazz. 1996 sprengte Bugge Wesseltoft, denn so hieß der verrückte norwegische Klangwissenschaftler, die Fesseln des diktatorischen Systems und stellte der Weltöffentlichkeit sein brandneues Projekt vor, dem er wagemutig den Namen “New Conception of Jazz” gegeben hatte. Die folgenden zehn Jahre zog dieses Projet marodierend und brandschatzend durch die Jazzszene und rief Sympathisanten in aller Welt zu den Waffen. Der Rest ist, wie man so schön sagt, Geschichte: Die Freiheit des Jazz wurde endlich wieder hergestellt…
Okay, okay… die obige Darstellung der Dinge mag ein bißchen frivol und zugegebenermaßen auch etwas übertrieben sein. Aber Fakt ist und bleibt, daß Bugge Wesseltofts Projekt New Conception of Jazz mit seinem 1996 veröffentlichten namenlosen Debütalbum einen Stein von enormen Ausmaßen ins Rollen brachte. Furchtlose Hybridisierung, Experimentieren und Einfallsreichtum waren die Schlüsselelemente des Projekts, die Bugge und seinen Mitstreitern, frei nach Samuel Beckett, “eine Lizenz zum Versagen” gaben. Doch “Versagen” stand damals überhaupt nicht auf der Agenda, weil noch ein anderes Element präsent war: Zugänglichkeit. Diese Musik hatte zwar radikale Absichten, bedurfte aber keiner Erläuterungen oder Dogmas, um “hörbar” zu sein. Sie war stets melodisch und harmonisch, besaß eingängige und mitunter treibende Grooves (womit man nun aber keine simplen Bumm-Bumm-Bumm-Bumm-Beats assoziieren darf) und einen freizügigen Geist. Sogar der Humor kam in ihr nicht zu kurz (man denke da nur an “(Come On, Buddy, You Got) Green Light” vom Album “Sharing”). Kurzum: Es war Jazz für Leute, die mit beiden Beinen mitten im aktuellen Musikleben standen.
Zehn Jahre nach dem ersten Album erklärte Bugge Wesseltoft seine Mission und das Projekt für zumindest vorläufig beendet. Da ist es an der Zeit, noch einmal musikalisch Bilanz zu ziehen. Und zu diesem Zwecke stellte Bugge eine Box mit drei prallgefüllten CDs und einer DVD zusammen, die umfassend dokumentiert, wofür seine “New Conception of Jazz” stand und was sie erreichte. Dafür wählte er aus dem Repertoire von vier Studio- und einem Live-Album die Schlüsseltracks aus und kombinierte diese mit bislang unveröffentlichten Studio- und Live-Aufnahmen, alternativen Versionen und Remixen. Herausgekommen ist dabei ein perfektes Porträt eines der meistdiskutierten, aufregendsten, tollkühnsten und elektrifizierendsten Projekte, das der Osloer Jazzuntergrund je hervorgebracht hat.
Die Fans werden entzückt sein, an der Seite ihrer Lieblingsoriginale auch zuvor unveröffentlichte Remixversionen von Mind Over Midi und Chilluminati vorzufinden. Sogar die von Kritikern und Fans gerne übersehenen und oftmals etwas beunruhigend wirkenden Ambient-Ausflüge des Projekts wurden nicht außen vorgelassen: ein Beispiel dafür ist “Hymn”, ein Stück von geradezu klaustrophobischer Düsternis, wie man sie bei Dancefloor-kompatibler Musik nur selten antrifft. Auch einige alternative Versionen von “klassischen” Nummern kann man hier entdecken: etwa von “Hope”. Das vom Album “Film’ing” stammende Stück ist hier in einer Duo-Version von Bugge Wesseltoft und Dhafer Youssef präsent. Und dann gibt es da schließlich noch über 75 Minuten nie zuvor veröffentlichter Live-Aufnahmen aus Yokohama, Paris und Oslo. Zu den etatmäßigen Musikern von New Conception of Jazz gesellen sich hier unter anderem der französische House/Trance/Techno-Produzent und -DJ Laurent Garnier und Jazzgitarrist John Scofield, der von der Zusammenarbeit mit Bugge ganz begeistert war. “Es ist nicht leicht, Leute zu finden, die elektrischen Jazz spielen und dabei ihre Integrität wahren”, lobte Scofield damals Wesseltoft. “Als ich Bugges Aufnahmen hörte, wußte ich gleich, daß er ein ebenbürtiger musikalischer Partner sein würde.” Mitgeschnitten wurden bei den Konzerten nicht nur Publikumsfavoriten wie “Change”, “Sharing” und “Film’ing”, sondern auch vollkommen spontane Elektro-Musik-Sessions, die eben jene von John Scofield zitierte Integrität beweisen. Dabei wurden oftmals Methoden verwendet, die normalerweise nur in einem Tonstudio zum Einsatz kommen: es wurde live gesamplet sowie mit Loops und Effekten gearbeitet. Scofield selbst steuerte in “Jazzlandsangen”, live im Osloer Club Blå aufgenommen, eines seiner unglaublichen Soli bei.
Trotz des mitunter massiven Einsatzes all dieser elektronischen Elemente und Finten hat man es hier aber immer noch mit “wirklicher” Musik zu tun. Wirkliche Musik? Nicht nur das: sondern sogar wirklicher Jazz. Auch wenn diesem eine neue Konzeption zugrunde lag. Und daß Bugges Konzept wunderbar aufgegangen ist, beweisen die Aufnahmen dieser Box nachdrücklich.