Auch für “Samares”, das dritte Album mit seinem Trio, ließ sich der Schweizer Pianist Colin Vallon wieder von der Natur inspirieren. Geprägt ist es von organischen Grooves und dem scheinbar telepathischem Zusammenspiel mit seinen Trio-Partnern.
Patrice Moret/ Colin Vallon / Julian Sartorius(c) Nicolas Masson / ECM Records
14.11.2024
Die Lyrik und Melancholie der Kompositionen und subtile musikalische Interaktionen gehören seit jeher zu den herausragenden Merkmalen des Colin Vallon Trios. Und sie prägen auch “Samares”, das mittlerweile dritte Album des Ensembles für ECM. Dennoch hat sich der Sound des Schweizer Trios seit der letzten Einspielung, “Danse” aus dem Jahr 2017, deutlich entwickelt. Denn die Chemie zwischen den Musikern ist stärker geworden und ermöglicht ihnen so, noch tiefer in die gemeinsam gewebten dichten Klangteppiche einzutauchen. Dynamische Extreme werden ausgelotet und einprägsame Hooks – mal melodischer oder harmonischer Natur, dann wieder auf Beats basierend – geduldig herausgebildet und oft auf faszinierende Weise vollendet. Während subtile rhythmische Wendungen und von Klavierdreiklängen aufgebaute Akkordprogressionen an modernste Inspirationen aus der Welt des Artrock erinnern, tritt in anderen Stücken ein eng verbundenes Jazztrio zu Tage, das durch genaues Zuhören und Reagieren einen ausgefeilten kammermusikalischen Sound kreiert. In ihrer Gesamtheit werden die verschiedenen Impulse durch ein Grundthema verbunden, das die Musik wie ein Herzschlag durchzieht.
“Racine” (Wurzel), “Ronce” (Brombeere), “Brin” (Halm oder Stängel), “Souche” (Baumstumpf) – die verbindende Idee des neuen Trio-Albums von Colin Vallon spiegelt sich sowohl in einzelnen Songtiteln als auch im Albumtitel selbst klar wider. “Samare” ist der französische Name der Samara oder Flügelnuss, die optisch eine Mischung zwischen einem Samen und einem Blatt ist und sich durch ihre flügelähnlichen Kelchblätter auszeichnet – man findet sie zum Beispiel an Ahornbäumen, von deren Ästen sie in anmutigen Pirouetten herabsegeln und stets eine elegante Landung hinlegen. Besser könnte man auch die kontemplativen Klangwelten, die sich auf diesem Trio-Album entfalten, nicht bildlich beschreiben.
Erneut begleitet von Patrice Moret am Kontrabass und Julian Sartorius am Schlagzeug, präsentiert der Pianist Colin Vallon ein Programm, das Inspirationen aus der Natur, genauer gesagt der Pflanzenwelt bezieht, und von organischen Grooves und scheinbar telepathischem Zusammenspiel geprägt ist. Oder, wie das Magazin JazzTimes einmal schrieb, von “cooler Losgelöstheit, nachdrücklichen Grooves und post-postmodernem Empfinden.”
“Ich denke, dass es bei der Entwicklung unseres Trios immer mehr darum ging, einen kollektiven Klang zu finden, und weniger darum, sich auf individuelle Darbietungen zu fokussieren”, sagt Colin Vallon. “Wir haben eine gemeinsame Vorliebe für Texturen und Verschmelzungen. Julian ist ein Meister darin, eine einzigartige Atmosphäre zu schaffen, und er hat ein ausgeprägtes Gespür Sinn für den Raum eines jeden Musikstücks. Seine Klangpalette reicht weit über das Schlagzeug hinaus, und sein Spiel ist äußerst originell. Und Patrices unterstützendes Spiel, aber auch seine Art, die Musik zu orchestrieren, sowie seine kreativen Ideen bei der Gestaltung der Songs sind wesentliche Elemente unserer gemeinsamen Identität.”
Mit “Racine” beginnt das Album auf getragene und introspektive Weise. Das Besenspiel auf der Snare scheint sanfte Wellen zu emulieren, die leise an einem Strand anschlagen. Es wirkt wie ein Vorspiel für die großen lyrischen Klavierwellen, die "Mars" dominieren – eine einzige Akkordprogression, die sich dynamisch zu einem stetigen Crescendo entwickelt. Die bestens aufeinander eingestimmten Musiker lassen ihr Spiel hier unisono auf- und abschwellen, fast so, als atmeten sie mit einer gemeinsamen Lunge.
“Lou” und “Timo” sind nach Vallons Kindern benannt und markieren eine weitere Veränderung, die sich seit dem letzten Album auf das Leben des Pianisten ausgewirkt hat: die neu entdeckte Vaterschaft. “Lou” ist zunächst grüblerisch und weiträumig, entwickelt aber dann einen festen Puls um eine melancholische Akkordprogression, während der fröhliche rhythmische Furor von “Timo” eine Kulisse für gedämpfte Improvisationen am präparierten Klavier bietet. Die beiden Stücke sind – wie viele andere des Albums – zugleich gegensätzlich und doch komplementär.
“Ronce” wird vom wohl härtesten Beat des Albums angetrieben und besitzt – wie die beiden bereits erwähnten Kompositionen “Timo” und “Mars” – eine spiralförmige Vorwärtsbewegung, in der die Energie des Trios einen langen, fesselnden Bogen aufbaut. Vallon verändert hier die Tonhöhe des Klaviers mit leichten Synthesizermodulationen und erzielt so eine eindringliche Wirkung. Das anschließende “Étincelle” mit seinem Rubato-Design kann als das genaue Gegenteil betrachtet werden. Die sanften Arpeggien des Klaviers, begleitet von scharfen Beckenspritzern und unbeirrbarem Kontrabasszupfen, verleihen dem Stück auf unerwartete Weise Dynamik – am Ende verschwinden die wild gespielten Becken so natürlich, wie sie ins Bild gekommen sind.
Die Live-Erfahrung der Band ist seit dem letzten Album exponentiell gewachsen. Ein Grund dafür sind die Konzerte, die das Trio seit einiger Zeit alle zwei Wochen im Café Mokka in Thun gibt. “Die Konzerte haben den Sound der Band radikal verändert und die große Verbundenheit in unserem Spiel verstärkt. Ich würde sagen, dass wir zwischen ‘Le Vent’ und ‘Samares’ sowohl eine tiefere Verbindung als auch eine freiere Spielweise entwickelt haben. Das Material entstand auf natürliche Weise, wir entwickelten es gemeinsam und im Laufe der Zeit. Das hat uns erlaubt, bei unseren Erkundungen mehr in die Tiefe zu gehen und in der Musik mehr Kontraste zu schaffen.”
Der starke Rubato-Fluss des Titelstücks verrät viel über die kommunikative Energie des Trios und hebt die Dialoge zwischen den Instrumenten hervor, während “Souche”, das wie ein dunkler, verfremdeter Bolero klingt, die Fähigkeit der Musiker unterstreicht, mit wenigen Tönen ein lang nachklingendes Ergebnis zu erzielen. Auch hier erweitert Colin Vallons einfallsreiches Spiel auf dem präparierten Klavier – diesmal mit zwischen die Saiten geklemmten Holzklötzchen – das warme akustische Klangspektrum um gespenstische mikrotonale Nuancen. Mit “Brin” endet das Album, wie es begonnen hat: mit atmosphärischem Zusammenspiel, das nun aber ein Gefühl der Befreiung hervorruft.
“Der Titel ‘Samares’, wie die Samen des Ahornbaums, hat mich während des gesamten Prozesses begleitet. Und er scheint so passend, wenn man sich vorstellt, wie diese Samen im Wind tanzen. ‘Danse’ und ‘Le Vent’ sind die Titel unserer beiden vorherigen Trio-Alben. Und obwohl es zweifellos viele Unterschiede zwischenihnen und dieser Aufnahme gibt, so sind sie doch auch eng miteinander verbunden und bilden zusammen eine Trilogie.”