Saxofon-Koloss spreizt seine Flügel – David-Murray-Album erschienen
Für sein Debütalbum bei Impulse! Records hat sich David Murray von einer Musik inspirieren lassen, die älter ist als die Menschheit: dem Gesang der Vögel.
David Murray(c) Gregg Greenwood
24.04.2025
“Schon als David Murray vor rund 50 Jahren als aufstrebender Saxofonist und Bandleader nach New York kam, wirkte er wie eine alte Seele, die zutiefst mit den Wurzeln des Jazz vertraut war und gleichzeitig als Innovator aufblühte”, schrieb die New York Times im vergangenen Dezember, als sie Murrays Album “Francesca” zum zweitbesten Jazzalbum des Jahres 2024 kürte. Tatsächlich dürfte es nur wenige Musiker geben, die eine so umfangreiche und stilistisch breit gefächerte Diskografie aufweisen können wie David Murray. Der aus dem kalifornischen Oakland stammende Tenorsaxofonist, Bassklarinettist und Komponist hat in rund 50 Jahren annähernd 100 Alben unter seinem Namen eingespielt, auf denen er in so ziemlich jeder erdenklichen Konstellation (vom unbegleiteten Solokünstler bis zur Big Band) zu hören ist. Hinzu kommen 22 Alben mit dem von ihm mitbegründeten World Saxophone Quartet sowie Aufnahmen mit u.a. James Blood Ulmers Music Revelation Ensemble, Jack DeJohnettes Special Edition, Kip Hanrahan und McCoy Tyner.
Mit “Birdly Serenade”, seinem Debütalbum für das ikonische Label Impulse! Records, präsentiert David Murray nun ein neues außergewöhnliches Projekt. Denn für seine Kompositionen ließ er sich unter anderem von Musik inspirieren, die älter ist als die Menschheit: dem Gesang der Vögel. Mit “Birdly Serenade” beweist der 70-Jährige, der 1986 (noch vor Sonny Rollins, Ornette Coleman und Stan Getz) mit dem Bird Award des North Sea Festivals ausgezeichnet wurde, dass ihm ein Platz im Pantheon der wirklich kühnen Meister des Jazz gebührt.
Das Album ist Teil des aufsehenerregenden, multidisziplinären “The Birdsong Project”, das im vergangenen Jahr für die wunderschön gestaltete 20-LP-Box “For The Birds: The Birdsong Project” mit einem Grammy ausgezeichnet wurde. Alles begann, als David Murray seine Frau, die Schriftstellerin, Illustratorin und Designerin Francesca Cinelli, zu einem Künstler-Retreat in die idyllischen Adirondack Mountains begleitete. Dort schrieb Francesca eine Reihe von Naturgedichten, in denen Vögel eine wichtige Rolle spielen. Auch Murray ließ sich von der überwältigenden Natur inspirieren und komponierte vor Ort sechs der acht Stücke des Albums. Drei davon sind Vertonungen von Gedichten seiner Frau, die im letzten Stück von “Birdly Serenade” auch selbst als Spoken-Word-Künstlerin auftritt. “Der Rhythmus der Worte gab die Melodie vor. Man lässt sie ein paar Tage auf dem Klavier liegen, und im nächsten Moment verwandeln sie sich in ein Lied”, sagt Murray, der auch schon Musik zu Texten von Ishmael Reed, Amiri Baraka und Ntozake Shange komponiert hat, mit einem Anflug von Selbstironie. “Das ist jedenfalls meine Formel.”
Den letzten Schliff erhielt die Kompositionen dann bei Konzerten mit den Musikern seines aktuellen Quartetts, der spanischen Pianistin Marta Sánchez, dem Bassisten Luke Stewart und dem Schlagzeuger Russell Carter, mit denen er bereits das viel beachtete Album “Francesca” aufgenommen hatte. Sie alle gehören einer jüngeren Generation an und haben vor einigen Jahren in David Murray ihren Mentor gefunden. Für den Saxofonisten war dieser Prozess sehr erfrischend. Er beschreibt die Mitglieder des Quartetts als “erstklassige Musiker” (die Washington Post nannte sie “die nächste Generation von Genies”), die ihre unterschiedlichen musikalischen Perspektiven in das Werk einbringen und ihn dazu inspirieren, seine eigenen zu überdenken.
“Die Musik hat eine Art, sich live zu formen“, sagt David Murray. “Die Band hat ihre eigene Persönlichkeit entwickelt, die sowohl auf meiner Führung als auch auf ihren eigenen Fähigkeiten als Musiker beruht. Alles, was ich in meiner Lehrzeit gelernt habe, gebe ich an sie weiter.” Auf “Birdly Serenade” wird das Quartett bei zwei Stücken von der jungen, aufstrebenden kamerunisch-amerikanischen Sängerin Ekep Nkwelle verstärkt, die vor zwei Jahren bei der Sarah Vaughan International Jazz Voice Competition den dritten Platz belegte.