Es gibt nur wenige Musiker, die so sehr mit ihrem Instrument identifiziert werden, wie der Altsaxophonist David Sanborn. Ständig zwischen den Welten des Jazz, Rhythm’n'Blues und Pop hin- und herpendelnd, genießt er seit Jahrzehnten den Respekt der Fans dieser musik-alischen Lager. In der Popwelt erspielte sich Sanborn seinen exzellenten Ruf spätestens 1975 durch das herausragende Solo, das er zu David Bowies Hit “Young Americans” beisteuerte. Als einer der meistbeschäftigten Session- und Live-Musiker seit den 70er Jahren nutzte Sanborn stets geschickt die Chance, sich bei Auftritten an der Seite von großen Stars auch selbst in Szene zu setzen. Nicht nur David Bowie lernte so die Qualitäten des Saxophonisten zu schätzen, sondern auch andere Musiklegenden wie Eric Clapton, die Eagles, die Rolling Stones, James Taylor, Linda Ronstadt, Miles Davis, Bruce Springsteen und Stevie Wonder. Und so folgten auf gemeinsame Tourneen oft auch gemeinsame Platten-sessions.
Der unnachahmliche Sanborn-Sound durfte auch dort einfach nicht fehlen. Zu den Alben, denen Sanborn seinen Stempel aufdrückte, gehören unter anderem: Stevie Wonders “Talking Book” aus dem Jahr 1972, “Jazzmatazz, Vol 4: The Hip Hop Jazz Messenger: Back To The Future” von HipHop-Maestro Guru, “La Cucaracha” von der exzentrischen Indie-Pop-Rock-Gruppe Ween (die Musiker der Band hatten einst geschworen, sie würden nie mit Bläsern ins Studio gehen, es sei denn, sie könnten David Sanborn überreden) und Bruce Springsteens epochales Album “Born To Run” (zusammen mit den Brecker Brothers war Sanborn in der klassischen Nummer “Tenth Avenue Freeze-Out” zu hören). Weitere weltbekannte Künstler, die sich ihre Alben von Sanborns einzigartigem Saxophonsound veredeln ließen, waren etwa James Brown, Bryan Ferry, Lenny Kravitz, Billy Joel, Elton John und Steely Dan. Aber diese Omnipräsenz als Live- und Studiomusiker ist trotzdem nur ein Teil der Geschichte von David Sanborn: den Klang seines Saxophons kennt man auch aus zahlreichen Filmen (etwa aus jenen der “Lethal Weapons”-Reihe, wo Sanborns Saxophon Danny Glovers Persönlichkeit repräsentierte, während Eric Claptons Gitarre für Mel Gibson stand) und von David Lettermans “Late Night”-Show, in deren Hausband Sanborn in den späten 80ern oft gastierte. Von Sanborn stammt auch die Titelmusik der Comedy-Show “Saturday Night Live”. Und als Gastgeber der legendären NBC-Musiksendung “Night Music”, in der so unterschiedliche Stars wie Miles Davis, Dizzy Gillespie, Lou Reed, Santana, Sonic Youth, Sonny Rollins, die Pixies, Pere Ubu, Leonard Cohen, Curtis Mayfield und Al Green auftraten, ist Sanborn auch unvergessen.
Angesichts dieser vielfältigen Tätigkeiten ist es fast schon verwunderlich, daß der sechsfache Grammy-Sieger David Sanborn auch noch Zeit fand, regelmäßig eigene Alben aufzunehmen: Seit seinem 1975 erschienenen Debütalbum “Taking Off” ging er nicht weniger als 21 Mal ins Studio, um Alben unter eigenem Namen einzuspielen. Mit sage und schreibe neun dieser Alben konnte er den ersten Platz in den Jazz- oder Contemporary-Jazz-Charts des Fachblatts Billboard erobern.
Nun legt Sanborn mit “Here & Gone” sein 23. Album vor, das von dem legendären Phil Ramone produziert wurde. Wie stets wird der Saxophonist von einer exzellenten Band begleitet, die diesmal unter anderem aus dem Gitarristen Anthony Wilson, dem Keyboarder und Arrangeur Gil Goldstein, Bassist Christian McBride und Schlagzeuger Steve Gadd besteht. Weiteren Glanz verleihen dem Album die Stargäste Eric Clapton, Sam Moore, Joss Stone, Derek Trucks und Wallace Roney. Aber auf “Here & Gone” werden nicht nur große Namen aufgefahren, Sanborn überrascht auch mit einem bemerkenswerten musikalischen Konzept.
“Wenn man ein gewisses Alter erreicht, fängt man an, sich an die Dinge zu erinnern, die einen ganz am Anfang inspirierten”, meint der 1945 in Tampa/Florida geborene Saxophonist, der in St. Louis/Missouri aufwuchs. Zum Saxophonspielen war Sanborn als Kind auf den Rat eines Arztes hin gekommen. Der empfahl den Eltern des durch Polio geschwächten Jungen damals, dessen Lungenkraft durch Saxophonspielen zu stärken. Zu den frühen musikalischen Inspirationen des Jungen gehörten Soul-Jazz-Saxophonisten wie David “Fathead” Newman, Hank Crawford, Gene Ammons, Arnett Cobb, Illinois Jacquet, Jimmy Forrest, King Curtis und Willis “Gator” Jackson. Aber auch die Chicago-Blues-Legenden, die regelmäßig in St. Louis Konzerte gaben. Schon als 14jähriger trat Sanborn selbst mit Albert King und Little Milton auf.
Sein erstes professionelles Engagement erhielt der junge Saxophonist 1967 in Paul Butterfields Blues Band, der er fünf Jahre lang angehörte und mit der er eine Reihe von Alben einspielte. 1972 war Sanborn an Aufnahmen von Loudon Wainwright III, den Eagles, B.B. King, den Rascals und Stevie Wonder beteiligt und legte so den Grundstein für seine weitere Karriere.
Die Inspiration zu der Musik von “Here & Gone” verdankt Sanborn aber vor allem dem mittlerweile fast 74jährigen Altsaxophonisten Hank Crawford, der stilistisch auch immer zwischen den Welten des Jazz, Blues, Rhythm’n'Blues und Soul wandelte.
“Hank arbeitete in den 50er und frühen 60er Jahren als Saxophonist und Arrangeur für Ray Charles”, erinnert Sanborn. “Seine Arrangements und sein Saxophonspiel trugen maßgeblich zu meiner eigenen Vorstellung von Musik bei. So mußte Musik für mich klingen. Er ist ein wunderbar ökonomischer Musiker: er vergeudet keine Noten und spielt keinen einzigen überflüssigen Ton.”
Der Einfluß Crawfords wird vor allem (aber bei weitem nicht nur) in drei der neun Tracks dieses Albums deutlich. Die Crawford-Komposition “Stoney Lonesome” ist, wie Sanborn anmerkt, “das definitive Hank-Crawford-Stück”. “Es ist stilistisch zwischen Gospel, Rhythm’n'Blues und Jazz angesiedelt”, meint Sanborn, “und genau dort fühlten sich Hank und Ray immer am wohlsten.” Die Ballade “What Will I Tell My Heart?”, die Sanborn einst durch eine Aufnahme Crawfords entdeckte, “verdeutlicht, was ich von Hank gelernt habe: Nimm dir Zeit, wenn du eine Ballade spielst! Keine Eile, laß den Song sich entwickeln und dir vorgeben, wie du ihn zu spielen hast.” Die dritte Nummer ist Percy Mayfields Meisterwerk “Please Send Me Someone To Love”. Auch dieses Stück lernte Sanborn durch eine Einspielung Crawfords kennen. “Typisch für Hank ist hier die Ökonomie des Arrangements.”
Darüber hinaus interpretiert David Sanborn auf “Here & Gone” drei Stücke von dem 1960 entstandenen Ray-Charles-Album “Genius + Soul = Jazz”: “I’ve Got News For You”, “Basin Street Blues” und “I’m Gonna Move To The Outskirts Of Town”, ein weiteres Mayfield-Juwel.
“Das Stück hörte ich das erste Mal von Ray”, erläutert Sanborn, “und es schien mir ein großartiger Song für Eric Clapton zu sein.” Mit dem Gitarristen ist David Sanborn seit vielen Jahren befreundet. Und auch zusammengearbeitet haben sie schon des öfteren. “Zu meinem großen Glück hat er nicht nur zugesagt, bei dem Stück zu singen, sondern auch Gitarre zu spielen! Er hat dieses Stück wirklich verstanden und wußte genau, wie man es präsentieren muß.”
Auf seinem soul-jazzigen Album “Genius + Soul = Jazz” hatte Ray Charles fast nur Instrumentalnummern präsentiert. Lediglich bei zwei Stücken trat er als Sänger in Erscheinung: bei dem bereits erwähnten “I’m Gonna Move To The Outskirts Of Town” und bei “I’ve Got News For You”. Letzteres wird auf Sanborns Album nun von dem großartigen Sam Moore gesungen, der eine Hälfte des legendären Rhythm’n'Blues-Duos Sam & Dave war.
“Er ist einer der stärksten Sänger und eines der größten Talente dieser Musik”, unterstreicht Sanborn. “Er singt so gut wie er das schon immer tat – und er klingt einfach bemerkenswert!”
Sanborns Version des “Basin Street Blues” erinnert nicht nur an jene, die Ray Charles für “Genius + Soul = Jazz” aufgenommen hatte, sondern auch an die von Miles Davis, die man von dessen Album “Seven Steps To Heaven” kennt.
“An Davis' Aufnahme war damals der Pianist Victor Feldman beteiligt. Und sein Spiel bildete die Vorlage für unser Arrangement”, erklärt Sanborn. “Ich mochte das Stück schon immer und wollte es seit jeher mal in einen anderen harmonischen Kontext setzen.”
Von dem 1961 entstandenen Ray-Charles-Album “The Genius Sings The Blues” stammt wiederum “I Believe It To My Soul”, hier nun in einer fantastischen Interpretation der jungen Joss Stone zu hören.
“Sie ist ein wirkliches Phänomen”, schwärmt der Saxophonist. “Man muß schon ein gewaltiges Talent besitzen, um einen Song, den Ray Charles nicht nur geschrieben, sondern dem er wirklich seinen ganz persönlichen Stempel aufgedrückt hat, seine eigene Identität zu verleihen. Ich fühle mich richtig geehrt, daß sie an diesem Album mitgewirkt hat.”
Das von dem Bassisten Marcus Miller geschriebene “Brother Ray” (natürlich eine Hommage an Ray Charles) nahm Sanborn erstmals 1999 für sein von Miller produziertes Album “Inside” auf. “Here & Gone” enthält nun eine neue Version mit einer spektakulären Gitarrenbegleitung von Derek Trucks.
“Bei meinen Konzerten spiele ich das Stück ziemlich oft”, sagt Sanborn. “Und es paßte perfekt zu dem Geist dieses neuen Albums – außerdem gab es mir die Gelegenheit Derek zu ködern, der einer der großartigsten Gitarristen ist, die es heute gibt.”
Der dritte große Musiker, dessen Einfluß auf “Here & Gone” spürbar ist, war der Arrangeur und Pianist Gil Evans. Durch eine Aufnahme von Gil Evans wurde Sanborn zur Einspielung des “St. Louis Blues” animiert, mit dem das Album beginnt.
“Ich habe einige Jahre lang mit ihm gespielt und seine Art, musikalische Klanglandschaften zu entwerfen, war sehr inspirierend”, erinnert sich Sanborn. “Der ‘St. Louis Blues’ ist eines der ältesten Stücke des Jazzrepertoires, und wir verwendeten Harmonien, die den Geist der ursprünglichen Konzeption wahren – Gil war ein Meister, wenn es um so etwas ging.”
Bei dieser Gelegenheit lobt Sanborn auch seinen Produzenten Phil Ramone, der 1976 schon sein zweites Album “Sanborn” produziert hatte: “Ramone versteht instinktiv, worum es in dieser Musik geht. Er versteht besser als irgend jemand sonst, wie man eine Atmosphäre schafft, die der Erhaltung von Vitalität und Spontaneität und der Wahrung eines bestimmten Geistes förderlich ist.” Das perfekte Trompetensolo in dieser Nummer stammt natürlich von Wallace Roney.
“Ich fühle mich sehr geehrt, daß ich auf diesem Album so viele unglaublich gute Gastkünstler präsentieren kann”, freut sich David Sanborn. “Sie alle haben dazu beigetragen, den Klang dieses Albums abzurunden.”
“Here & Gone” mag von David Sanborn zwar als Hommage an seine drei größten musikalischen Vorbilder – Hank Crawford, Ray Charles und Gil Evans – konzipiert worden sein, gibt aber nicht weniger Zeugnis von seiner eigenen Entwicklung als Saxophonist. Und als solcher ist er nach wie vor singulär.