Für die
Jazzszene neigt sich ein aufregendes Jahr dem Ende zu: Junge Talente wie
Melody Gardot,
Lizz Wright und
Christian Scott schafften es, ihre Erfolge nicht nur zu konsolidieren, sondern in neue Sphären zu führen. Längst mit Legendenstatus dekorierte Musiker wie
Dee Dee Bridgewater,
Charlie Haden und
Bobby McFerrin begeisterten mit ihren neuen Projekten. Einen rasanten Sprung in die Schlagzeilen machten die
Senkrechtstarter Trombone Shorty und
Hamel. Der Songwriter
Rufus Wainwright bewies, dass er auf stilistisch sehr unterschiedlichen Hochzeiten tanzen kann und dabei stets eine gute Figur abgibt. Aber auch aus deutschen Landen gab es sehr Erfreuliches zu berichten: Zum einen richtete die
Deutsche Phono-Akademie zum ersten Mal eine Veranstaltung aus, die ganz dem Jazz gewidmet war. Bei der vom WDR-Fernsehen live übertragenen
Echo Jazz-Verleihung in Bochum wurden Preisträger in 31 verschiedenen Kategorien ausgezeichnet. Zum anderen brachte der Pianist
Frank Chastenier, einer der stillen und unaufdringlichen Stars des hiesigen Jazz, nach sechs Jahren endlich sein zweites Soloalbum heraus, das auch international hervorragende Kritiken erntete.
Christian Scott: Der junge Stilgott des Jazz Christian Scott unterscheidet sich deutlich vom Gros der jungen Trompeter, die in den letzten drei Jahrzehnten ins internationale Rampenlicht traten. Während diese meist in die Rolle der Traditionsbewahrer schlüpften (auch wenn sie, wie etwa Roy Hargrove, später progressivere Bahnen einschlugen), setzte Scott von Anfang an auf eigene Ideen und einen moderneren musikalischen Ansatz. Mit
“Yesterday You Said Tomorrow” präsentierte der aus New Orleans stammende Scott, den die JazzTimes schon zum “jungen Stilgott des Jazz” ernannte, sein bislang bestes Album. Die Süddeutsche Zeitung lobte ihn dafür zu Recht: “Der 26-jährige Trompeter Christian Scott gilt als einer der besten jungen Jazzmusiker, weil er technische und musikalische Grenzen verschiebt. Herbie Hancock hält ihn für das größte Talent der Gegenwart, Prince hat ihn ins Studio geholt und Randy Jackson sieht ihn als ‘Reinkarnation von all dem, was wir an Miles Davis liebten’.”
Dee Dee Bridgewater: Stimmlichen Intensität und enormes Charisma Ella Fitzgerald war die unumstrittene Köngin der Songbook-Einspielungen und eine Thronnachfolgerin lange Zeit nicht in Sicht. Bis Dee Dee Bridgewater dazu heranreifte. In den letzten 15 Jahren widmete sie sich nacheinander
Horace Silver (1995 auf “Love And Peace”),
Ella Fitzgerald (“Dear Ella”, 1997),
Kurt Weill (“This Is New”, 2002), dem
französischen Chanson (“J’ai Deux Amours”, 2005) und ihrem
afrikanischen Erbe (“Red Earth”, 2007). Doch auf ihr eigentliches Meisterwerk musste man bis 2010 warten: Es ist das Album
“Eleanora Fagan”, auf dem Dee Dee ihrem größten Vorbild
Billie Holiday in sensationeller Weise Tribut zollt.
“Eine Hommage an Billie Holiday gab es gefühlt etwa 2687-mal”, rechnete der Stern vor.
“Umso bemerkenswerter ist, was Dee Dee Bridgewater auf ihrem Tributealbum ‘Eleanora Fagan’ gelingt. Bridgewater entdeckt in dem Bekannten das Neue.” Für Spiegel-Online war es gleich
“die spannendste Neuerscheinung des jungen Jahres.” Und die Stuttgarter Nachrichten meinten:
“Mit einer beeindruckenden stimmlichen Intensität und enormen Charisma huldigt in den zwölf Songs eine Jazzlegende einer anderen. Auch ohne jeglichen historischen Background stellt dieses Album von Dee Dee Bridgewater ein grandioses Werk des aktuellen Vokaljazz dar.” Bobby McFerrin: Vokale Hexenkunst Experimentierfreudigkeit war seit jeher Bobby McFerrins Triebfeder. Doch während der Stimmbandartist das Publikum bei seinen Konzerten regelmäßig und vollkommen mühelos in Bann zu schlagen verstand, gelang ihm das mit seinen Alben nicht immer. Nun scheint es aber, als habe er bei der Arbeit an
“VOCAbuLarieS” endlich die richtige Formel gefunden. Das Album, das er mit Unterstützung anderer Sänger/innen aufnahm, ist ein babylonisches Klangwunderwerk, zusammengesetzt aus Elementen von Jazz, Klassik, Rhythm’n’Blues, Gospel und Pop sowie Musik aus Afrika, Nah- und Fernost, Lateinamerika und Indien. Herausgekommen ist laut Bücherjournal Extra
“eine faszinierende Stunde Weltmusik, gesungen von 50 Vokalisten”. Laut Kulturnews ist es
“ein Vokabelheft vokaler Hexenkunst, in dem jeder, der Ähnliches vorhat, auf der Suche nach ausdrucksstarken musikalischen Worten nachschlagen könnte.” Und Emotion kam gar zum Schluss:
“Kein himmlischer Chor könnte die A-cappella-Vokalkunst von McFerrin und seinem Ensemble wohl besser intonieren… Ohren auf und zuhören!” Rufus Wainwright: Der mit Emotionen zaubert Rufus Wainwright in eine der gängigen Schubladen zu stecken, erwies sich schon ganz zu Beginn seiner Karriere als Ding der Unmöglichkeit. So heftete man ihm anfangs das Etikett
Singer/Songwriter an, obwohl er schon auf seinem ersten Album gelegentlich in die Welt der Oper und Cabaret-Musik abdriftete. Dieses Jahr sorgte er gleich mit zwei sehr unterschiedlichen Werken für Furore: Zum einen erschien die
DVD “Prima Donna – The Story Of An Opera”, auf der die Entstehung seiner seiner ersten eigenen Oper dokumentiert war. Und parallel dazu auch noch Rufus’ neue CD
“All Days Are Nights: Songs For Lulu”, ein ungemein intimes Album, das mehr von einem klassischen Liederrecital hat als von einer Singer/Songwriter-Performance. In einer Rezension des Albums hieß es bei Spiegel-Online:
“Das Ewige und der Augenblick haben Rufus Wainwright zu überwältigenden Songs verholfen. Möge es ewig so weiter gehen.” In Stereoplay konnte man lesen:
“Ein Klavier, eine Stimme – mehr braucht Wainwright nicht, um Eindruck zu hinterlassen.” Welt Kompakt wiederum bezeichnete Rufus Wainwright schlicht als den,
“der mit Emotionen zaubert.” Hamel: Macht halb Europa verrückt Lange Zeit waren Crooner an der Schnittstelle zwischen Jazz und Pop eine Domäne der Amerikaner. Dann tauchte der Brite
Jamie Cullum auf und wirbelte die Szene durcheinander. Und nun schlägt die Stunde des jungen Niederländers Hamel, der sich mit seinem zweiten Album
“Nobody’s Tune” auf dem besten Wege befindet, ebenfalls zum internationalen Star zu werden.
“Hamel ist ein massives Talent”, meinte etwa der Kulturspiegel.
”Der 33-Jährige schreibt Songs, in denen Pop und Jazz beschwingt verschmelzen.” Das Journal DB Mobil bezeichnete ihn als
“Prinz aus Den Haag” und
“aufgehenden Stern am europäischen Jazzhimmel”.
“Genuss für alle Sinne… Hamel aus Holland zeigt, wie sexy und leicht Jazz klingen kann”, befand wiederum Joy. Während das Frauenmagazin Petra ihn mit dem jungen
Frank Sinatra verglich, schrieb SONO:
“Inzwischen macht sein Debütalbum ‘Nobody’s Tune’ halb Europa verrückt – mit lässigem Cocktail-Jazz-Pop inklusive Spritzern Funk.” Melody Gardot: Erstklassiges Songwriting-Talent mit sublimer Stimme
Es läuft und läuft und läuft… nein, die Rede ist hier nicht etwa von einem neuen Modell des VW-Käfers, sondern von Melody Gardots zweitem Album
“My One And Only Thrill”. Seit es vor anderthalb Jahren erschienen ist, konnte es die Konkurrenz (und die war beileibe nicht schwach) nicht von ersten Platz der deutschen Jazzcharts verdrängen. Jetzt wurde das brillante Album in einer
Special Edition gerade noch einmal neu aufgelegt: mit
Remixen einiger der besten Songs und einer Bonus-CD, die akustische Versionen von vier absoluten Jazzklassikern enthält. Selbst dem Tennie-Magazin Bravo blieb Melodys Erfolg nicht verborgen:
“Mit ihrem zweiten Studio Album ‘My One And Only Thrill’ schafft es das US-Girl Meldoy Gardot in dieser Woche in die Top Ten.” Die TZ feierte sie als
“eine der aufregendsten Entdeckungen der Songwriter-Szene”. Und die BBC schwärmte:
“‘My One and Only Thrill’ ist der fesselnde Nachfolger von Gardots bezwingendem Debütalbum ‘Worrisome Heart’ und bestätigt sie eloquent als ein erstklassiges Songwriting-Talent mit einer wahrlich sublimen Stimme.” Trombone Shorty: Ein musikalischer Riese namens Shorty Von seinem Künstlernamen Trombone Shorty sollte man sich nicht täuschen lassen. Denn das, was
Troy Andrews (so sein eigentlicher Name) auf Posaune und Trompete sowie als Songwriter, Sänger und Entertainer auf seinem neuen Album
“Backatown” zeigt, ist schlichtweg riesig. Dafür adelte ihn der Playboy kürzlich zum
“Jazz-Prince” und schrieb anerkennend:
“Mit seinem neuen Album macht Trombone Shorty das, was Prince vor zwei Jahrzehnten für den Pop tat: Er bringt ihn musikalisch auf die Höhe der Zeit.” Das Hamburger Abendblatt vermeldete ein wenig irreführend:
“Wunderkind aus New Orleans bringt die Welt zum Tanzen.” Denn den Schuhen des Wunderkinds ist der mittlerweile Trombone Shorty längst entwachsen. Schon als Zwölfjähriger brachte er mit seiner in die Beine gehenden Musik Pop-Größen wie
Bono und
The Edge dazu, in einem New Orleaner Club auf den Tischen zu tanzen. Heute tanzt die halbe Welt zu seinem hochexplosiven Stilmix aus Funk, Rock, Rhythm’n’Blues, Jazz und HipHop.
Frank Chastenier: Der Klangschatzgräber Es gibt Jazzpianisten, bei denen man den Eindruck hat, sie würden nach der Menge der Töne bezahlt, die sie im Eiltempo aus den Tasten hervorsprudeln lassen. Andere wiederum legen weitaus mehr Wert, die einzelnen Töne auszukosten und in aller Ruhe stimmungsvolle musikalische Szenarien zu entwerfen. Zu dieser Sorte Pianisten gehört auch der lange Zeit unterschätzte Frank Chastenier, der mit seinem zweiten Soloalbum
“Songs I’ve Always loved” eine Art “Audiobiographie” ablieferte.
“Der Jazzpianist veredelt Lieder von ‘But Beautiful’ bis ‘Dein ist mein ganzen Herz’ zu reduzierten Kunstwerken, verleiht ihnen aber immer wieder mit im Stile Claus Ogermans arrangierten Streichern noch mehr Leuchtkraft.... exzellent”, urteilte Stern. Im Rheinischen Merkur hieß es:
“Chastenier verneigt sich vor acht Klangschätzen der Vergangenheit. Und verwandelt sie, beruhigt sie, reduziert sie auf ein Konzentrat aus Wohlklang und improvisierter Abschweifung.” Lizz Wright: Brillanz mit jeder Menge Seele und Emotion Jazz, Folk, Soul, Gospel, Rhythm’n’Blues – bei den Alben von Lizz Wright verkommen Genrespezifizierungen zur reinen Nebensache, weil sie jedwedem Stil ihren ganz eigenen Stempel aufdrückt. Jüngster Beweis dafür ist ihr neues Album
“Fellowship”, auf dem sie einerseits zu ihren Gospelwurzeln zurückkehrt, andererseits aber auch mit wie Mitstreiterinnen wie
Toshi Reagon,
Angélique Kidjo,
MeShell NdegeOcello und
Joan Wasser zu neuen musikalischen Ufern aufbricht.
“Ihre Darbietung streicht jeder verwundeten Seele Balsam auf die schmerzenden Stellen”, konstatierte Stereo, während Kulturnews befand:
“Wer sie einmal hört, ist süchtig: Lizz Wright hat eine der herausragendsten Stimmen des neuen Soul.” Zu einem ähnlichen Urteil kam auch die Vogue, als sie schrieb:
“Lizz Wright ist ja selbst und allein schon ein der intensivsten und beeindruckendsten Soulsängerinnen… Brillanz mit jeder Menge Seele und Emotion.” Charlie Haden Quartet West: Nostalgie als sinnliches Vergnügen Dass Charlie Haden mit seinem Quartet West
elf Jahre lang kein Album aufgenommen hatte, konnte mancher Fan erst glauben, nachdem er es selbst überprüft hatte. Zu sehr waren die fünf fabelhaften Alben des Quartetts in der Erinnerung lebendig geblieben. Und dafür, dass man nicht in Vergessenheit geriet, sorgte das Ensemble in all den Jahren zudem mit regelmäßigen Konzerten. Zur Feier seines 25-jährigen Jubiläums überraschte das Quartett seine Fans nun aber mit einem ganz besonderen Meisterwerk und prominenten Gastvokalistinnen.
“Der Titel des neuen Albums ‘Sophisticated Ladies’ von Jazz-Altmeister Haden ist glatte Untertreibung”, stellte Vogue fest.
“Die Damen, die für den Kontrabassisten und sein Quartet West singen, sind die großen Jazzstimmen der Gegenwart: Norah Jones, Melody Gardot, Diana Krall, Cassandra Wilson – und die Operndiva Renée Fleming.” Während das Album von Tonart als
“Jazzkino für die Ohren” eingestuft wurde, meinten die Kollegen von SONO:
“Nostalgie als sinnliches Vergnügen”. In der Leipziger Volkszeitung konnte man schließlich lesen:
“Schwelgen mit faszinierenden Frauen. Charlie Haden ist in seiner klassischen Phase angekommen, das Album ‘Sophisticated Ladies’ beweist es.”