Zu den Markenzeichen von Lonnie Smith gehören seit Jahrzehnten sein Doktortitel und sein Sikh-Turban. Nicht dass Smith solchen Schnickschnack (denn tatsächlich ist er weder ein echter Doktor noch ein Sikh) je nötig gehabt hätte. Schon früh konnte er sich als einer der ganz großen Meister der Hammond-Orgel profilieren. Aber geschadet ihm diese skurrilen Merkmale, die er sich ohnehin erst Mitte der 1970er Jahren zulegte, natürlich auch nicht. In seiner Karriere, die sich nun schon über fünf Jahrzehnte spannt, war Smith an der Einspielung von über 70 Alben beteiligt und arbeitete mit zahlreichen Stars des Jazz, Blues und Rhythm’n’Blues zusammen. In der Presse wird er regelmäßig als “Legende”, “Hammond-Guru” oder “lebende Musikikone” bezeichnet und als einer der kreativsten Jazzorganisten überhaupt gefeiert. Die Jazz Times nannte ihn einmal scherzhaft “ein Rätsel, das in ein Mysterium eingewickelt ist, das unter einem Turban steckt”.
Der 1942 in Lackawanna bei Buffalo/New York geborene Lonnie Smith wurde von seiner Mutter von klein auf mit Gospelmusik, Blues und Jazz gefüttert. Als Jugendlicher sang er in Vokalgruppen und spielte in der Schulband unter anderem Trompete und Posaune. Egal welches Instrument ihm der Bandleader damals in die Hand drückte, der junge Lonnie beherrschte es schon nach wenigen Stunden. Doch seine wahre Liebe fand er in den späten 1950ern, als ihm Art Kubera, der Inhaber eines Musikinstrumentengeschäfts, eine alte Hammond-Orgel überließ. Das Instrument faszinierte ihn so sehr, dass er alle Platten, die er von Wild Bill Davis, Bill Doggett and Jimmy Smith bekommen konnte, geradezu verschlang. “Ich weiß nicht, wie ich es schaffte, aber ich bekam das Instrument gleich richtig in Griff”, erinnert sich Smith." Ich lernte die Register zu bedienen, und das war es dann eigentlich auch schon. Ich war mit solcher Leidenschaft bei der Sache, dass sich alles andere geradezu natürlich ergab." Bis heute ist er dem vor wenigen Jahren verstorbenen Besitzer des Musikgeschäfts, den er seinen “Engel” nennt, dafür dankbar.
Bei Auftritten im Pine Grill, Buffalos seinerzeit heißestem Jazzclub, zog er schnell die Aufmerksamkeit von durchreisenden Musikern wie Jack McDuff, Lou Donaldson und George Benson sowie dem Konzertagenten Jimmy Boyd auf sich. Benson, der selbst noch am Anfang seiner Karriere stand, engagierte Lonnie Smith für sein Quartett und nahm mit ihm die beiden Platten “It’s Uptown” und “The George Benson Cookbook” auf. 1967 legte der Organist bei Columbia sein Debütalbum “Finger Lickin’ Good” vor. Danach stieß Smith zur Band des Altsaxophonisten Lou Donaldson, den er im selben Jahr bei der Aufnahme des Blue-Note-Hitalbums “Alligator Boogaloo” begleitete. Mit Donaldsons Band spielte Smith für Blue Note noch die Alben “Mr. Shing-A-Ling” und “Midnight Creeper” ein, bevor er selbst einen Vertrag von dem Label angeboten bekam. 1968 brachte er mit “Think!” sein erstes eigenes Album bei Blue Note heraus, für das er 1969 im DownBeat zum “Organisten des Jahres” ernannt wurde. Drei weitere Alben sollten in den nächsten beiden Jahren folgen: “Turning Point”, “Move Your Hand” und “Drives”. Ein fünftes Blue-Note-Album, “Live At Club Mozambique”, das George Benson featurete, kam erst 1995 heraus. Zu einer Zeit, als Dr. Lonnie Smith von der Acid-Jazz-Bewegung als einer ihrer Vorväter gefeiert wurde und zahlreiche Hip-Hop- und House-Künstler seine alten Aufnahmen sampleten.
Über die Jahrzehnte hinweg machte Dr. Lonnie Smith, der von der Jazz Journalist Association zwischen 2003 und 2014 sage und schreibe neunmal als “Organist/Keyboarder des Jahres” ausgezeichnet wurde, Alben für eine ganze Reihe von Plattenfirmen, zuletzt für sein eigenes Label Pilgrimage. Dabei bewies er stets einen erstaunlich weitgefächerten Musikgeschmack, indem er Stücke von John Coltrane über Jimi Hendrix bis hin zu Beck in seinem Repertoire präsentierte. Mit seinem jüngsten Album “Evolution” ist Dr. Lonnie Smith nun nach rund 45 Jahren zum Label Blue Note zurückgekehrt, bei dem er sich einst mit zündendem Soul- und Funk-Jazz einen Namen gemacht hatte. Mit einer jungen Band, bei der zwei Schlagzeuger für einen extrafetten Backbeat sorgen, sowie Robert Glasper und Joe Lovano als Gästen, zeigt der mittlerweile 73-Jährige hier, dass er musikalisch nicht stehengeblieben ist, sondern den Blick immer noch nach vorne gerichtet hat.