Im November 2018 tat sich Trompeter Enrico Rava, der als Doyen des italienischen Jazz gilt, für eine kurze Tournee mit Joe Lovano zusammen, dem großartigen US-amerikanischen Tenorsaxophonisten sizilianischer Herkunft. Das denkwürdige Konzert, das sie im Rahmen ihrer Minitournee im Auditorium Parco della Musica in Rom gaben, wurde von ECM für das Album “Roma” aufgezeichnet. Zu erleben sind die beiden Meister in dieser Aufnahme mit einem ausgesprochen spritzigen Quintett, das sich aus Pianist Giovanni Guidi, Schlagzeuger Gerald Cleaver und Bassist Dezron Douglas (der hier sein ECM-Debüt gibt) zusammensetzt. Den Kern des Programms bildeten Publikumsfavoriten der beiden Bandleader. Aus Enrico Ravas Feder stammen die vertrackte Nummer “Interiors” und “Secrets”, während Joe Lovano eigens für das Ensemble den Titel “Divine Timing” schrieb und zudem noch den kraftstrotzenden Texas-Blues “Forth Worth” beisteuerte. Das Album endet mit einem ausgedehnten und eindringlichen Medley, das Lovanos “Drum Song” mit John Coltranes “Spiritual” sowie dem Standard “Over The Rainbow” verlinkt und so einem Streifzug durch die Geschichte des moderen Jazz gleicht. Mit der Veröffentlichung von “Roma” feiert ECM den 80. Geburtstag Enrico Ravas, der am 20. August 1939 in Triest geboren wurde.
Obwohl sie sich schon seit einer halben Ewigkeit kennen, haben Rava und Lovano nur sehr sporadisch miteinander gespielt. Vor über zwanzig Jahren gab es eine Handvoll gemeinsamer Auftritte mit Miroslav Vitous und Tony Oxley, bei denen man schon das Potenzial dieser Kombination erahnen konnte. Aber für die 2018 durchgeführte Tournee formten und entwickelten sie das Repertoire zum ersten Mal zusammen. Dass sie einige ästhetische Prioritäten gemein haben – beide könnte man als traditionsbewusste musikalische Abenteurer bezeichnen – wird schnell klar. Lovano erinnert sich noch daran, wie er Enrico in den 1970er Jahren zum ersten Mal hörte: “Man konnte immer heraushören, dass er einerseits eine große Leidenschaft für die Musik von Miles Davis, Chet Baker, Art Farmer, Kenny Dorham und Dizzy Gillespie hatte – aber andererseits auch für Leute wie Don Cherry. Und diese Offenheit und seine große Leidenschaft für den Jazz haben mich wirklich inspiriert. Und so setzte sich bei mir im Laufe der Jahre die Idee im Kopf fest, dass wir dazu bestimmt seien, irgendwann miteinander zu spielen. Deshalb bin ich jetzt auch wirklich glücklich über dieses Album…”
Rava wiederum merkt an: “Joe ist ein absoluter Meister und spielt mit einer unglaublichen Wärme. Ich fühle mich ihm sehr verbunden, da wir beide tief in der Tradition verwurzelt sind, aber uns auch ohne jegliche Selbstzensur in die Zukunft stürzen.”
Die inspirierte Rhythmusgruppe für die Auftritte wurde von dem Pianisten Giovanni Guidi zusammengestellt, der einst ein begabter Zögling von Rava war und heute längst selbst ein profilierter Bandleader ist (den jüngsten Beweis dafür erbrachte er im März dieses Jahres auf seinem ECM-Album “Avec Le Temps”). Guidi und Schlagzeuger Gerald Cleaver haben in den zurückliegenden zehn Jahren zusammen an einer Reihe von Projekten mitgewirkt, darunter das ECM-Album “Ida Lupino” (mit Gianluca Petrella und Louis Sclavis). Mit dem Bassisten Dezron Douglas hat Giovanni Guidi zuletzt in dem Quintett Not A What zusammengearbeitet, das er gemeinsam mit dem Trompeter Fabrizio Bosso leitet.
“Sie alle hören und reagieren sehr schön aufeinander”, sagt Lovano. “Giovanni Guidi ist ein sehr freier Spieler, der uns mit seinen Ideen oft auf sehr stimulierende Weise überrascht. Dezron Douglas ist ein wirklich ernsthafter, starker Bassist mit einem donnernden Ansatz. Er ist eine treibende Kraft. Und Gerald Cleaver ist ein ungemein swingender Schlagzeuger. Sein Stil ist gekennzeichnet von sehr vielen treibenden und kontrastierenden Elementen, die die Spielweise von Giovanni und Dezron wirklich unterstützen. Diese Rhythmussektion spielt auf eine wahrlich fließende, exploratorische Art zusammen.”
Das Album beginnt mit Ravas Komposition “Interiors”, die man von seinem 2008 aufgenommenen ECM-Album “New York Days” kennt, und “Secrets”, einem Stück aus den 1980er Jahren, das 2005 schon für “The Words And The Days” wiederbelebt wurde. “Ich finde, das sind schöne Stücke, über die man gut improvisieren kann”, meint Rava. “Joe spielt sie großartig und hebt die Musik auf ein solches Niveau, dass es sehr inspirierend ist, im Anschluss an seine Soli zu spielen.” Rava, der in diesem Set ausschließlich auf dem Flügelhorn zu hören ist, spielt – inner- und außerhalb der Freizone – auf singende Weise und mit dem melodischen Erfindungsreichtum, der schon seit langem für sein Werk charakteristisch ist.
Danach stürzt sich das Ensemble mit großem Elan auf Lovanos “Forth Worth”. Dabei zollt es zum einen dem Texas-Blues Tribut, spielt aber auch auf Ornette Coleman und Dewey Redman an, zwei der freiesten Geister von Fort Worth. “Es ist ein funkiger 24-taktiger Blues, der uns viel Freiheit lässt”, erklärt Lovano. “Es ist ein Song, der je nachdem, mit wem ich ihn spiele, eine ganz andere Form annimmt. Ich wollte ihn unbedingt mit Enrico und dieser Rhythmusgruppe interpretieren.”
In “Drum Song” ist Joe zunächst am ungarischen Tarogato zu hören, wechselt dann aber zum Tenorsaxophon, als die Musik allmählich in Coltranes “Spirtual” übergeht und zum Kochen kommt, bevor Giovanni Guidi die Wogen mit einer großzügigen rhapsodischen Erzählung von “Over The Rainbow” wieder glättet.