Die für ihn typische, extrovertierte Performance, die Enrico Rava 2019 beim “Jazz Middelheim”-Festival in Antwerpen hinlegte, täuscht leicht darüber hinweg, dass der Trompeter zu diesem Zeitpunkt schon 80 Jahre alt war. Der Doyen des italienischen Jazz war in jenem Sommer bester Spiellaune, als er auf einer ausgedehnten Tournee zwischen den Feierlichkeiten zum 50-jährigen Bestehen von ECM Records und denen seines eigenen runden Geburtstags hin- und herpendelte. Sein damaliges Quartett mit Gitarrist Francesco Diodati, Bassist Gabriele Evangelista und Schlagzeuger Enrico Morello hatte er eigens für diese Jubiläumskonzerte um den Pianisten Giovanni Guidi und den Tenorsaxophonisten Francesco Bearzatti zum Sextett erweitert. Zusammen bildeten sie eine ganz besondere Einheit – eine Edizione Speciale -, die in der Lage war, durch die ganze Bandbreite von Ravas musikalischen Vorlieben zu schweifen. Alle Musiker, die hier zu hören sind, haben sich in unterschiedlichem Maß von Enrico Ravas Vorbild inspirieren lassen: für die meisten von ihnen ist er ein Mentor gewesen, und im Gegenzug hat er selbst frische Energie aus seinen geistvollen Interaktionen mit ihnen geschöpft. “Ich gewähre ihnen eine Menge Freiheit”, hat Rava einmal über seine Mitspieler gesagt, “weil ich ihnen vertraue. Ich muss ihnen vertrauen, und sie müssen mir vertrauen… dann ist alles möglich.”
Der 1939 in Triest geborene Rava nahm unter Improvisationskünstlern immer schon eine Sonderstellung ein. Als traditionsbewusster Musiker stach der Trompeter in der Umbruchsära der späten 60er und frühen 70er Jahre aus dem inneren Zirkel der frei improvisierenden Bläser heraus. Dies zeigt sich bereits bei einigen seiner frühesten Aufnahmen, etwa auf Steve Lacys “The Forest And The Zoo” (1967), Manfred Schoofs “European Echoes” (1969) und natürlich auf Carla Bleys epischem Werk “Escalator Over The Hill” (1971).
“Ich habe mich immer der Tradition des Jazz verbunden gefühlt und begann irgendwann eine ‘italienischere’ Art des Musikempfindens zu entdecken, was für mich hieß, der Melodie mehr Bedeutung beizumessen”, erläuterte Rava in dem 2007 publizierten Buch “Horizons Touched: The Music of ECM”. Der Trompeter und Flügelhornist tauchte nach und nach tiefer in seine “persönliche musikalische Welt ein, die eine Synthese aus den vielen Erfahrungen meines Lebens darstellt.” Dies bedeutet Jazz aus New Orleans bis hin zu Ornette Coleman und darüber hinaus, Einflüsse von italienischer Klassik und Popularmusik und auch “das Feeling von Südamerika, wo ich in gewisser Weise meine zweite Heimat habe, mit Tango und brasilianischer Musik… Ich bringe all die Musiken, die ich liebe, zusammen und erschaffe etwas, das im Wesentlichen noch Jazz ist, aber auch unverkennbar meine eigene Musik.”
Das Repertoire von “Edizione Speciale” hat vom ersten Moment an ein autobiographisches Flair. “Infant” beginnt mit einem kurzen, unbegleiteten Flügelhorn-Intro von Rava, dem schon bald die Vorstellung des Themas folgt, das zunächst wie eine von Ornette Colemans Melodien für seine frühe Band mit Don Cherry daherkommt. Saxophonist Francesco Bearzatti ist hier in straffem Unisono-Spiel mit Rava zu hören. Der Auftritt von Gitarrist Gabrieli Evangelisti bereitet der Ornette-Assoziation dann aber in einer Explosion von Klangfarben ein Ende. Und wenn Giovanni Guidi, einer von Ravas begabtesten Protegés, schließlich mit einem brodelnden Klaviersolo die Szene betritt, hat sich der Eindruck verfestigt, dass diese Musik, die vor Persönlichkeit nur so strotzt, in jedwede Richtung gehen kann. Mit absoluter Unbekümmertheit schwenkt sie von einer Stimmung zur nächsten um.
Auch Michel Legrands “Once Upon A Summertime” wird behutsam von Assoziationen mit der bekannten Version gelöst, die Miles Davis und Gil Evans 1963 auf ihrem gemeinsamen Album “Quiet Nights” vorgestellt hatten. Das poetische und klare Klavierspiel von Guidi führt die Ballade in freiere Gefilde, bevor sie dann direkt in Ravas “Theme For Jessica Tatum” mündet, ein Stück aus seiner Sammlung mit geheimnisvollen Filmmelodien, die 1996 auf dem Label-Blue-Album “Noir” erschien.
In “Wild Dance”, dem Titelstück eines 2015 herausgekommenen ECM-Albums vom Enrico Rava Quartet, werden tänzerische Bewegungen über einen treibenden Puls ausgeführt und den elegischen Flügelhorn-Tönen des Leaders verzerrte E-Gitarren-Texturen gegenübergestellt, die Rava als “Klangwolken” bezeichnet. “The Fearless Five” führt uns indes zurück in die Blütezeit von Ravas Band mit dem inzwischen verstorbenen Posaunisten Roswell Rudd. Das Stück hat seine Wurzeln im Dixieland und den taumelnden Rhythmen von Thelonious Monk, während es zugleich auch immer nach anderen freien Ausdrucksformen sucht.
“Le Solite Cose/Diva” kombiniert ein Stück, das Rava bevorzugt im Duo mit dem Pianisten Stefano Bollani gespielt hat, mit einer weiteren Nummer von dem Album “Noir”, auf die der Trompeter bei verschiedenen Gelegenheiten zurückgegriffen hat (u.a. bei der Einspielung des ECM-Albums “Wild Dance”). Und dann ist da schließlich noch die karnevalesk-schwungvolle Interpretation des populären kubanischen Gassenhauers “Quizás, Quizás, Quizás”, der eine clevere Mischung aus Bolero und Chachachá ist (Giovanni Guidi hatte diesen Klassiker zuvor schon für sein 2015 erschienenes ECM-Album “This Is The Day” eingespielt). Ravas “Edizione Speciale”-Ensemble nutzt den synkopierten Groove als Sprungbrett für lebhafte Soli von allen Bandmitgliedern. Enrico Morello, laut Rava “derzeit der beste Schlagzeuger Italiens”, bewältigt die Wechsel zwischen den diversen lateinamerikanischen Rhythmen mit erstaunlicher Leichtigkeit und Eleganz. Ein fulminanter Abschluss für ein an Höhepunkten reiches Album.