“Mit Ethan Iverson am Klavier gerät jede Session zu einem Ausflug ins Unbekannte oder zumindest Unerwartete”, bemerkte Dave Gelly vor einigen Jahren im britischen Observer. “Er hat die Gabe, ziemlich unerhörte Ideen vollkommen logisch erscheinen zu lassen.” Und auf “Technically Acceptable”, seinem zweiten Album für Blue Note, präsentiert der Pianist nun gleich eine ganze Reihe “ziemlich unerhörter Ideen”. Iverson taucht hier – begleitet von zwei verschiedenen Trios, im Duo mit dem Theremin-Virtuosen Rob Schwimmer oder solo – kopfüber in die Fülle der musikalischen Einflüsse und Epochen ein, mit denen er sich in den vergangenen 30 Jahren intensiv auseinandergesetzt hat. Mal präsentiert er eigene Kompositionen, in denen er die Jazzgeschichte (vom Kansas City Jump Blues bis zur Chicago Avantgarde) zitiert, ihr dabei aber stets einen eigenen, zeitgenössischen Dreh gibt. Dann überrascht er – wie in den besten Zeiten von The Bad Plus – mit eigenwilligen Interpretationen bekannter Songs, bevor er das Album mit einer dreisätizgen Klaviersonate ausklingen läßt, die von Mozart und Beethoven inspiriert ist.
Ethan Iverson wurde 1973 in Menomonie, Wisconsin, geboren und erhielt klassischen Klavierunterricht, bis ihm im Alter von zwölf Jahren klar wurde, dass er auf diese Weise kein neuer Thelonious Monk werden würde. Nach dem Schulabschluss zog er 1991 nach New York. Dort studierte er zunächst zwei Jahre Jazz (u.a. bei Jim McNeely) an der New York University, bevor er Privatstunden bei Fred Hersch nahm. Hersch empfahl ihm auch, wieder klassischen Klavierunterricht zu nehmen und schickte Iverson zu seiner früheren Lehrerin Sophia Rosoff (zu deren Schülern auch Brad Mehldau und Aaron Parks gehörten). Parallel dazu versuchte Iverson in den 1990er Jahren in der hart umkämpften New Yorker Jazzszene Fuß zu fassen und nahm – unter anderem mit Größen wie dem Tenorsaxofonisten Dewey Redman und dem Schlagzeuger Billy Hart – fünf Alben unter eigenem Namen auf. Außerdem sammelte er fünf Jahre lang wertvolle Erfahrungen als musikalischer Leiter des Tanzensembles des Choreografen und Tänzers Mark Morris.
Im Jahr 2000 gründete er Iverson dann mit dem Bassisten Reid Anderson und dem Schlagzeuger David King das Trio The Bad Plus, das weltweit für Furore sorgte. Bis 2016 nahm er mit der Band vierzehn gefeierte Alben auf, darunter “These Are the Vistas” (2003), “Prog” (2007) und “For All I Care” (2008). Und jedes Mal überraschten sie mit einer eigenwilligen Mischung aus abenteuerlichen Eigenkompositionen und einfallsreichen Coverversionen bekannter Pop- und Rocknummern. Für “The Rite of Spring” überarbeiteten The Bad Plus 2014 Igor Strawinskys gleichnamiges Orchesterwerk für das Trio-Format. Ein Live-Album der Band mit Joshua Redman als Gast wurde 2015 für einen Grammy nominiert.
Ende 2017 verließ Ethan Iverson The Bad Plus, um andere musikalische Pfade einzuschlagen und neue Formate auszuprobieren. Für ECM Records nahm er im Duo mit dem Tenorsaxofonisten Mark Turner zuerst das kammermusikalische Album “Temporary Kings” auf. Um die Neuinterpretationen von Jazzstandards ging es danach auf dem Live-Album “Common Practice”, eingespielt in einer Quartett-Besetzung mit dem großartigen Tom Harrell an der Trompete. Ebenfalls live entstand das Album “Bud Powell In The 21st Century”, auf dem Iverson dem Bebop-Pionier zusammen mit dem Umbria Jazz Orchestra Tribut zollt. Zum Trio-Format und eigenen Kompositionen kehrte Ethan Iverson erst 2021 wieder zurück, als er mit dem Schlagzeuger Jack DeJohnette und dem Bassisten Grenadier “Every Note Is True” aufnahm, sein gefeiertes Debütalbum für Blue Note.
Stand: Dezember 2024