Joe Lovano | News | Befeuert von rhythmischer Ausdruckslust

Befeuert von rhythmischer Ausdruckslust

Auf seinem dritten Album “Our Daily Bread” baut Joe Lovanos Trio Tapestry seinen offenen und lyrischen Ansatz mit aufmerksamstem Zuhören und intensivem Fokus weiter aus.
Joe Lovano, Marilyn Crispell, Carmen Castaldi
Joe Lovano, Marilyn Crispell, Carmen Castaldi
04.05.2023
"'Our Daily Bread' wird von rhythmischer Ausdruckslust befeuert, welche die geheimnisvolle Welt der Musik vermittelt, die vor uns liegt”, schreibt der großartige Saxophonist Joe Lovano in den Linernotes zu dem neuen Album, wobei er sich auf seine elegant fließenden Stücke und eindringlichen Balladen bezieht. Im Laufe seines langen Jazzlebens hat sich Lovano mit der gesamten Bandbreite dieser Musik auseinandergesetzt und sowohl innerhalb als auch außerhalb der Tradition gespielt. Das mit Marilyn Crispell und Carmen Castaldi gebildete Trio Tapestry dient ihm als Medium für einige seiner persönlichsten Werke. "Dies ist keine Band, die vom Beat geleitet wird”, betont Lovano. “Das Momentum liegt in der Melodie und der harmonischen Abfolge. Und der Rhythmus entwickelt sich in jedem Stück auf eine sehr frei fließende Art und Weise.”
”Die Intensität ist nicht auf Wildheit zurückzuführen, sondern auf die Tiefe der Empfindung”, schrieb das BBC Music Magazine über das Debütalbum des Trios. "Lovanos Themen und Harmonien bieten ein reiches Potenzial, welches das Trio wunderbar ausschöpft, indem es Textur und Stimmung ebenso ergiebig auslotet wie es Melodie und Harmonie entwickelt.” Wie bei den beiden vorangegangenen Alben mit Marilyn Crispell und Carmen Castaldi – "Trio Tapestry” (2018) und "Garden Of Expression” (2020) – schrieb Lovano die Stücke für “Our Daily Bread” speziell für dieses Trio, dessen einzigartiger Charakter immer mehr an Konturen gewinnt.
”Ich stelle zwar das Ausgangsmaterial bereit, aber jeder von uns trägt im gleichen Maß dazu bei, die Musik innerhalb der Musik zu erzeugen”, sagt Joe Lovano. Der Bezugsrahmen des Trios ist breit gefächert. In der Eröffnungsnummer "All Twelve” wird das Zusammenspiel in einen Zwölfton-Kontext gestellt. Das Titelstück "Our Daily Bread” und "Grace Notes” sind wiederum sehnsuchtsvoll in ihrem Ausdruck und scheinen aus derselben spirituellen Quelle zu schöpfen, die Coltrane genährt hat.
Marilyn Crispell erweist sich erneut als die optimale Pianistin für diese Musik, orchestriert diese, während sie sich entfaltet, mit einer Empfindsamkeit, die sowohl zeitgenössischer Kammermusik als auch den vielfältigen Möglichkeiten der Improvisation in der Post-Free-Ära gerecht wird. Wolfgang Sandner schrieb einmal, dass es Crispell schafft, "bei der Schönheit einer einzigen Note zu verweilen und aus einem einzigen Akkord eine Unendlichkeit von Melodien zu entwickeln.” Schon in den 1970er Jahren sagte Cecil Taylor voraus, dass Marilyn "eine neue Art von Lyrik im Jazz anführen” würde. Es ist ein Prozess, den sie bis heute immer wieder neu definiert.
Lovano begegnete Marilyn Crispell zum ersten Mal, als sie Mitglied des Quartetts von Anthony Braxton war, in dem sie Klang, Raum und Stille auf neue Weise anging. Die Pianistin kann auf eine beachtliche ECM-Diskographie als Bandleaderin und Solistin zurückblicken. Die von der Kritik gefeierten Aufnahmen umfassen die Alben "Nothing Ever Was Anyway, Music Of Annette Peacock” (1996), "Amaryllis” (2000), "Storyteller” (2003), "Vignettes” (2007), "One Dark Night I Left My Silent House” (2008) und "Azure” (2011).
Der enigmatische Schlagzeuger Carmen Castaldi, ein außergewöhnlich subtiler Perkussionist, schmückt Lovanos Stücke mit seinem eigenen poetischen Touch auf den Becken aus und entlockt Gongs, so wie Joe selbst, gelegentlich aufblühende Nachklänge. Castaldis Assoziation mit Joe Lovano reicht bis in die gemeinsamen Teenagerjahre in Cleveland zurück. Nach Abschluss der Highschool besuchten sie zusammen auch das Berklee College of Music in Boston. Zu hören ist Castaldi an der Seite von Lovano nicht nur auf den drei ECM-Alben des Trio Tapestry, sondern auch auf Joes Blue-Note-Album "Viva Caruso” von 2002.
In der Mitte des Programms präsentiert Lovano das bluesige "One For Charlie”, eine solo auf dem Tenorsax gespielte Hommage an Charlie Haden.
Dabei verleiht er jeder einzelnen Note Bedeutung, so wie es einst auch der Bassist getan hatte, dem dieses Stück gewidmet ist. Lovano und Haden spielten im Laufe der Jahre in verschiedenen Kontexten zusammen, u.a. in Charlies Liberation Music Orchestra und in Paul Motians "On Broadway”-Band, die durch den Gitarristen Bill Frisell komplettiert wurde. An der Seite von Motian trat Lovano 1981 auch zum ersten Mal bei ECM auf dem Album "Psalm” in Erscheinung, an dessen Einspielung Frisell ebenfalls beteiligt war. Mit "It Should’ve Happened A Long Time Ago” wurde dann 1984 das langlebige und zur Legende gewordene Trio Motian/Lovano/Frisell etabliert, das unter anderem noch auf den Alben "I Have The Room Above Her” (2004) und "Time And Time Again” (2006) dokumentiert ist.
Zusammen mit dem dänischen Gitarristen Jakob Bro hat Joe Lovano im vergangenen Jahr das musikalische Erbe und den Einfluss von Motian auf dem Album "Once Around The Room” gefeiert. Zu den aktuellen ECM-Aufnahmen mit Lovano gehören außerdem Kollaborationen mit dem polnischen Marcin Wasilewski Trio auf "Arctic Riff” (2020) und mit dem italienischen Trompeter Enrico Rava auf “Roma” (2019).
”Our Daily Bread” wurde im Mai 2022 im Auditorio Stelio Molo in Lugano aufgenommen und von Manfred Eicher produziert.
Mehr von Joe Lovano