Vor zehn Jahren leitete der Saxofonist Kasami Washington mit seinem Album “The Epic” das erstaunliche Revival des Spiritual Jazz der 60er und frühen 70er Jahre ein. Zu den führenden Vertretern der neuen Generation, die das Genre seither erneuert haben, gehören heute neben Kasami Washington die Saxofonisten Shabaka Hutchings und Immanuel Wilkins, der Pianist Nduduzo Makhathini, die Harfenistin Brandee Younger und der Vibrafonist Joel Ross.
Letzterer hat nun auf seinem aktuellen Album “nublues” mit seiner Band Good Vibes einen, wie Ssirus W. Pakzad in Jazz thing schreibt, “Blues- und Balladenzyklus [geschaffen], der es nicht nur in spiritueller Hinsicht in sich hat. […] Sein geschlossener Reigen enthält mal versunken-meditativ im Rubato treibende Passagen, Aufwühlendes, Angedüstertes, eindringlich-hymnische Melodien, die das musikalische Geschehen beseelen, wildes Austreiben (wie im Titelstück), prächtig swingende Sequenzen. Der knapp 29-jährige Ross zeigt nicht erst auf ‘nublues’, dass er sowohl als Instrumentalist als auch als Komponist einen ganz eigenen Ton gefunden hat. Auch als Interpret fremden Materials ist er eine Wucht – umwerfend ist seine Fassung von Monks ‘Evidence’.”
Joel Ross, geboren am 10. Juli 1995 in Chicago, begeisterte sich schon früh für alles, was mit Rhythmus zu tun hat. Noch bevor er drei Jahre alt war, begann er deshalb zusammen mit seinem Zwillingsbruder Josh Schlagzeug zu lernen. Mit zehn Jahren traten sie in die Schulband ein. “Ich hatte als Schlagzeuger vorgespielt, aber mein Bruder ist der bessere Drummer. Also schlugen sie mir vor, Vibraphon zu spielen. Ich wollte eigentlich nicht, aber ich tat es, und so kamen wir zum ersten Mal mit Jazz in Berührung… Ich erinnere mich, dass der erste Vibrafonist, den ich hörte, definitiv Milt Jackson war, und er hatte bei weitem den größten Einfluss auf mich, zumindest was das Vibrafonspiel betraf. Als wir anfingen, waren es Milt Jackson, Thelonious Monk, Miles Davis und dann ziemlich viel John Coltrane. Das waren die Musiker, die wir am meisten gehört haben.”
Obwohl er am Jazz Institute of Chicago und der Chicago High School for the Arts eine profunde musikalische Ausbildung erhielt, brachte er sich das Vibrafonspielen lange Zeit autodiaktisch bei. Das änderte sich erst, als er für zwei Jahre nach Kalifornien ging, um bei dem Vibrafonisten Stefon Harris Unterricht zu nehmen. Unter dessen Anleitung fand Ross einen völlig neuen Zugang zu seinem Instrument und überarbeitete seine Technik komplett. 2015 wechselte er zur New School in New York, wo er mit dem Altsaxofonisten Immanuel Wilkins, dem Pianisten Jeremy Corren, dem Bassist Benjamin Tiberio und dem Schlagzeuger Jeremy Dutton seine erste eigene Band Good Vibes gründete, mit der er noch heute zusammenspielt.
Mit dieser Band nahm er auch “Kingmaker” auf, sein erstes Soloalbum für Blue Note, das als eines der besten Debütalben des Jahres 2019 gefeiert wurde und in die Top 10 der Billboard Jazz Album Charts gelangte. Es zeigte ihn nicht nur als virtuosen Vibrafonisten, sondern auch als erstaunlich originellen Komponisten. Diesen Ruf festigte er 2020 auf dem Nachfolgealbum “Who Are We?”, das er wieder mit Good Vibes einspielte. Auf seinem dritten Album “The Parable Of The Poet” überraschte er zwei Jahre später mit einem Oktett und kammermusikalischem Jazz, der gelegentlich an Charlie Hadens legendäres Liberation Music Orchestra erinnerte.
Als Gast wirkte Ross, der inzwischen vier Jahre in Folge die DownBeat Critics Poll in seiner Instrumentenkategorie gewonnen hat, zuletzt auf so wichtigen Alben wie Brandee Youngers “Brand New Life”, Meshell Ndegeocellos “The Omnichord Real Book”, Joshua Redmans “where are we”, Cautious Clays “Karpeh” und Arooj Aftabs “Night Reign” mit. Außerdem ist er Mitglied der Blue-Note-Allstar-Band Out Of/Into, die mit “Motion I” gerade ihr erstes Album bei dem Label veröffentlicht hat.
Stand: Dezember 2024