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Anti-Jazzer oder verkannte Visionäre?

Dass John Coltrane und Eric Dolphy ihrer Zeit musikalisch weit voraus waren, unterstreicht das atemberaubende Album “Evenings At The Village Gate” mit unveröffentlichten Live-Mitschnitten aus dem Jahr 1961.
John Coltrane
John Coltrane(c) Herb Ellis
14.07.2023

Das Album “Evenings At The Village Gate: John Coltrane with Eric Dolphy” auf CD, LP und als exklusive Sonderedition in orangem Vinyl finden finden Sie in unserem JazzEcho-Store.

Die Jazzgeschichte ist gepflastert mit Beispielen für musikalische Erneuerungen und Umbrüche, die bei Teilen der Kritiker und des Publikums erst einmal auf große Ablehnung stießen, bevor sie – manchmal Jahrzehnte später – allgemein als epochale Errungenschaften anerkannt und gefeiert wurden. Auch John Coltrane und Eric Dolphy sahen sich 1961 mitunter vehementer Kritik ausgesetzt, als sie zusammen durch die USA tourten. In der DownBeat-Ausgabe vom 23. November 1961 schrieb ein entsetzter Kritiker damals: “Im Renaissance Club in Hollywood hörte ich kürzlich eine erschreckende Demonstration dessen, was ein wachsender Anti-Jazz-Trend zu sein scheint, der von diesen führenden Vertretern [gemeint waren Coltrane und Dolphy] dessen, was als Avantgarde-Musik bezeichnet wird, exemplifiziert wird. […] Ich hörte, wie eine gute Rhythmusgruppe… hinter den nihilistischen Übungen der beiden Bläser verschwand… Coltrane und Dolphy scheinen darauf aus zu sein, den [Swing]… absichtlich zu zerstören. Sie scheinen es darauf anzulegen, einen anarchistischen Kurs in ihrer Musik zu verfolgen, den man nur als Anti-Jazz bezeichnen kann.”
Nur wenige Wochen vor dem Gastspiel in Hollywood war John Coltrane mit seinem Quartett und Eric Dolphy als fünfter Kraft an mehreren Abenden im New Yorker Village Gate aufgetreten. Um das neue Soundsystem des Clubs zu testen, wurde dabei ein Mitschnitt gemacht, der lange Zeit als verloren galt und erst kürzlich in den riesigen Tonarchiven der New York Public Library entdeckt wurde. Für das Album “Evenings At The Village Gate: John Coltrane With Eric Dolphy” wurden diese mitreißenden Aufnahmen klangtechnisch aufbereitet und erscheinen nun erstmals auf einer CD, als Doppel-Vinyl und im digitalen Format. Und siehe da: Was seinerzeit noch von einigen als “Anti-Jazz” geschmäht wurde, wird jetzt in der Presse und von Coltrane-Fans einhellig als “visionäre Musik” gefeiert.
John Coltrane, der zum Zeitpunkt der Aufnahmen gerade von Atlantic Records zu Impulse! Records gewechselt hatte, gastierte damals einen ganzen Monat lang mit rotierenden Besetzungen in dem legendären New Yorker Club. Auf “Evenings At The Village Gate” präsentiert er sich zusammen mit seinem musikalischen Alter Ego Eric Dolphy und den Musikern seines sich noch formierenden klassischen Quartetts: Pianist McCoy Tyner, Interims-Bassist Reggie Workman und Schlagzeuger Elvin Jones.
Neben einigen bestens bekannten Coltrane-Publikumsfavoriten (“My Favorite Things”, “Impressions” und “Greensleeves”) gibt es auch eine Interpretation von Benny Carters Komposition “When Lights Are Low” zu hören, in der Eric Dolphy ein atemberaubendes Solo auf der Bassklarinette spielt. Ein weiteres Highlight ist die einzige bekannte und 23 Minuten lange Live-Aufnahme der Coltrane-Nummer “Africa”, bei der als zweiter Bassist Art Davis zu dem Quintett stößt.
Evenings At The Village Gate” gewährt einen Einblick in die ergreifende, aber leider nur kurze musikalische Beziehung zwischen John Coltrane und Eric Dolphy. Die beiden hatten sich zwar schon 1954 in Los Angeles persönlich kennengelernt, doch zu einer wirklichen Zusammenarbeit zwischen ihnen sollte es erst sieben Jahre später kommen.
Dokumentiert war diese bisher auf den Alben “Afrika/Brass” (Coltranes Debüt für Impulse! Records), “Olé Coltrane” (seinem letzten Album für Atlantic Records) und dem Live-Album “Coltrane Live At The Village Vanguard”. Alle drei Alben waren zwischen Mai und Dezember 1961 entstanden. Mit “Evenings At The Village Gate” wird diese kurze, aber den modernen Jazz prägende  Geschichte nun um ein neues aufregendes Kapitel erweitert.
In dem umfangreichen Booklet, das dem Album beiliegt, melden sich zwei Personen zu Wort, die an diesem historischen Konzert im Village Gate direkt beteiligt waren: der Bassist Reggie Workman und der Toningenieur Rich Alderson. Darüber hinaus gibt es aufschlussreiche Essays von dem Impulse! Records-Chronisten Ashley Kahn und den Jazzsaxofonisten Branford Marsalis und Lakecia Benjamin. Neben der normalen Doppel-LP-Ausgabe mit schwarzem Vinyl gibt es für Sammler auch eine  limitierte Version mit Vinyl in der ikonischen Impulse!-Farbe Orange.
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