John Scofields Karriere, die nun schon fast ein halbes Jahrhundert umspannt, ist sowohl von richtungsweisenden Kollaborationen mit Jazzgrößen wie Miles Davis und Joe Henderson gekennzeichnet als auch von mehreren Dutzend Alben unter eigenem Namen, auf denen der Gitarrist die Grenzen zwischen Genres überschreitet und verwischt. Deshalb ist es um so erstaunlicher, dass dies hier sein allererstes Gitarrensoloalbum überhaupt ist. Das lange Warten hat sich indes gelohnt. Denn Scofield gelingt es, aus seinem enormen, über Jahrzehnte gewachsenen Erfahrungsschatz zu schöpfen und auf sehr intime Weise einen Pfad durch die Stile und Idiome zu schlagen, die er bis heute durchlaufen hat. Dabei tritt der Gitarrist raffiniert mit sich selbst in einen Dialog, indem er seine Soloeinlassungen zur eigenen gediegenen Akkord- und Rhythmusbegleitung spielt, die er live über eine Loop-Maschine abruft.
“Ich glaube, dass ich dadurch, dass ich in letzter Zeit [wegen der Corona-Pandemie] viel allein zu Hause gespielt habe, ein gewisses Feingefühl entwickeln konnte”, sagte Scofield vor kurzem im Gespräch mit dem Boston Herald. “Ich bin es ansonsten gewohnt, mit einer fetzigen Band zu spielen; das ist etwas, das ich liebe, und es erfordert eine bestimmte Art von Musikalität. Die ist nun einer delikateren Herangehensweise gewichen, um die Anmutigkeit der Saiten zu betonen. […] Wenn ich solo spiele, kreiere ich ad hoc diese kleinen Gitarren-Loops. Es sind keine vorher aufgezeichneten Loops. Ich muss also auf die Musik reagieren und es ist fast so, als würde ich mit einer anderen Person spielen.”
Es ist nicht ungewöhnlich, dass man bei Alben, die schlicht mit dem Namen des Künstlers betitelt sind, eine tiefere Bedeutung in die Namensgebung hineinliest. John Scofield gräbt hier tief in seiner Vergangenheit, verfolgt den ganzen Weg zu seinen Wurzeln und den Helden seiner Jugend zurück. Das Resultat ist ein gut ausgewogenes und umfassendes Bild des Musikers, das die Musik, die ihn einst geprägt hat, mit jener verknüpft, die er danach selbst weiter beeinflusst und geformt hat.
“Als ich ein Kind war, war die Gitarre das Instrument des Rock’n’Rolls und der Popmusik, und das war die Musik, die mich damals interessierte”, erklärt Scofield. Beseelt von diesem Geist zaubert er hier mühelos Buddy Hollys “Not Fade Away” aus dem Hut und interpretiert diesen Hit, den Holly kurz vor Scofields sechstem Geburtstag herausgebracht hatte, auf ebenso ausgefallene wie entspannte Weise. Noch weiter zurück geht er mit Hank Williams’ “You Win Again”, das im September 1952 erschien; zu einer Zeit, als der zukünftige Gitarrenstar nicht einmal ein Jahr alt war.
Scofields Hauptaugenmerk liegt aber nach wie vor auf seiner tiefen Verbundenheit mit der Jazztradition. Diesmal knöpft er sich ein paar gut abgehangene Standards vor und gönnt ihnen einzigartige Interpretationen. In den Liner Notes des Albums kommentiert er kurz jeden Song. Dabei offenbart er z.B. seine Vorliebe für Kenny Dorhams Version von Jimmy Van Heusens “It Could Happen To You”. Seine eigene Interpretation ist sehr swingend und wartet im Mittelteil mit einem gewandten Tonartwechsel auf. Er erinnert sich auch an seine allererste Aufnahme zurück, bei der er Gerry Mulligan und Chet Baker live bei der Einspielung von “There Will Never Be Another You” begleitete. Sein eigener Annäherungsversuch an den Song erweist sich als behändes und kompaktes Abenteuer. Es folgt eine besonders minimalistische Version von Arthur Johnston und Sam Coslows “My Old Flame”, bei der Scofield die Loop-Maschine ausgeschaltet lässt.
Der Gitarrist hat eine ganze Reihe von Alben mit seinen eigenen Kompositionen gefüllt, deren melodische Qualitäten und verlockende Sangbarkeit oft denselben zeitlosen Charakter haben wie Jazzstandards. “Ich mache ich mir keine Gedanken über Ideen, wenn ich Musik schreibe. Instrumentalmusik existiert in einem anderen Teil deines Gehirns, da geht es nicht um eine Idee, die mit Worten oder visuell beschrieben werden kann. Musik existiert an ihrem eigenen Ort”, sinniert Scofield.
Seine eigenen Kompositionen gehören zu den Höhepunkten dieses Programms: Scofield verwandelt “Honest I Do” (eine Nummer, die er 1991 geschrieben und erstmals für “Grace Under Pressure” aufgenommen hat) in eine gefühlvolle Ballade, die er mit experimentellen Gitarrenklängen erkundet. “Mrs. Scofield’s Waltz”(das er 2001 mit u.a. Brad Mehldau und Kenny Garrett auf “Works For Me” vorstellte) ist seiner Frau Susan gewidmet, die wiederum dem Song “Since You Asked” (den John ursprünglich 1990 mit Joe Lovano für “Time On My Hands” aufnahm) seinen Titel gab. “Trance Du Jour” ist laut Scofield “mehr ein Gefühl als eine eigentliche Komposition” und gewissermaßen seine “Version des Jazz der 60er Jahre à la Coltrane”. Das Stück ist genauso energiegeladen wie der von ihm geschriebene Blues “Elder Dance”.
Neben zwei Traditionals – “Danny Boy” und “Junco Partner” – bietet Scofield noch eine eindringliche, aber ziemlich verschleierte Interpretation von Keith Jarretts “Coral” – denn das Hauptthema des Stücks stellt er in seiner Version erst ganz am Ende vor. Aufgenommen wurde das Album im August 2021 in Katonah, New York, wo der Gitarrist seit Langem zu Hause ist.
Erstmals auf einem ECM-Album zu hören war John Scofield 1985 als Mitglied von Bassist Marc Johnsons Band Bass Desires. Auf das gleichnamige Debütalbum der Gruppe (zu der außerdem noch Bill Frisell und Peter Erskine gehörten) folgte 1987 das zweite Bass-Desires-Album “Second Sight”. 2004 stand Scofield dem Bassisten bei der Einspielung des Soloalbums “Shades Of Jade” zur Seite, auf dem sich auch sein langjähriger Spielpartner Joe Lovano ein Stelldichein gab. Auf dem Live-Doppelalbum “Saudades”, aufgenommen im selben Jahr, bildete der Gitarrist dann wiederum mit Schlagzeuger Jack DeJohnette und Organist Larry Goldings das Trio Beyond, das Tony Williams’ Lifetime Tribut zollte. Unter seinem eigenen Namen debütierte John Scofield bei ECM erst 2020 mit dem Album “Swallow Tales”, das Kompositionen des Bassisten Steve Swallow in den Fokus stellte.
Mit dem Programm von “Swallow Tales” wird John Scofield übrigens im Mai für zwei Konzerte nach Deutschland kommen (bei denen er aber sicher auch Stücke seines brandneuen Albums im Programm haben dürfte). Begleitet wird er dann von dem Bassisten Vicente Archer (der für den verhinderten Steve Swallow einspringt) und dem Schlagzeuger Bill Stewart, der bereits auf “Swallow Tales” mit von der Partie war. Am 24. Mai tritt dieses Trio im Institut Français in Berlin auf und am 25. Mai im Jazzclub Domicil in Dortmund.