Ein für ihn ungewohntes Terrain betritt der norwegische Pianist Jon Balke auf seinem neuen Album “Book Of Velocities”. Während er auf seinen fünf vorangegangenen ECM-Alben stets als Leader vielköpfiger Formationen in Erscheinung trat (mit dem Magnetic North Orchestra, Oslo 13 und zuletzt dem perkussiven Ensemble Batagraf), präsentiert er sich hier nun erstmals als Solopianist. Das Programm besteht aus 19 kurzen Stücken, in denen er verschiedenste Ideen, Techniken, Rhythmen, Texturen und Klangfarben ausprobierte. Ins Studio ging er mit lediglichen vagen Vorstellungen, die er dann aus dem Stegreif heraus entwickelte und variierte. Dabei spielte – wie der Titel des Albums bereits andeutet – “Geschwindigkeit” eine bedeutende Rolle.
Das Cover-Foto von “Book Of Velocities” schoß Jon Balke aus dem fahrenden Auto heraus. “Ich höre mir Musik gerne zur Probe an, wenn ich mit dem Auto unterwegs bin, und die Kamera lag diesmal auf dem Beifahrersitz griffbereit”, erzählt Balke. “Beim ersten Versuch nahm ich sie nur in die Hand und fotografierte wild herum, ohne die Kamera anzuschauen oder durch den Sucher zu gucken. Beim zweiten Mal programmiert ich die Kamera vor, um bessere Resultate zu erzielen, und danach verstand ich dann schließlich etwas besser, wie man Lichter abzubilden hat. Und so entstand eine Serie von Geschwindigkeitsbildern.”
Musikalische “Geschwindigkeitsbilder” enthält wiederum das Album “Book Of Velocities”. Es ist ein “Hörbuch” mit 19 kurzen Stücken, die zu vier Kapiteln und einem Epilog gebündelt wurden. Bei der Aufnahme entschied sich Balke für eine besondere Vorgehensweise: Zunächst skizzierte auf dem Piano recht spontan eine musikalische Idee, wartete dann ein paar Sekunden und entwickelt diese Ursprungsidee in einer Reihe von Takes weiter, bevor er ein neues “Kapitel” aufschlug. Statt mit vorgefertigten Ideen zu arbeiten, wollte er die Musik sich ad hoc entwickeln lassen. Einfluß auf das Resultat nahmen dabei, wie er erzählt, auch der Aufnahmeraum, die Tagesstunde, das Klavier und das Licht.
Geschwindigkeit war ein wichtiger Teil des Prozesses: “Beim Klavierspielen geht es hauptsächlich um Geschwindigkeit”, behauptet Jan Balke. “Wenn man einen Ton anschlägt, dann gibt die Mechanik keine andere Information weiter, als die über die schiere Kraft, mit der dein Finger die schwarze oder weiße Taste trifft. Geschwindigkeit produziert den Sound, danach kommen die Akkorde, Melodien und der Kontext.” Rein rhetorisch fragt er: “Wenn man die Tasten mit einem Schlagzeugstock statt mit einem Finger anschlagen würde und dies mit derselben Geschwindigkeit täte, würde es dann anders klingen?”
Bei der Aufnahme seines “Book Of Velocities” verzichtete Balke auf Over-Dubs und elektronische Klangbearbeitung. Stattdessen lotet er rigoros das Klangpotential des akustischen Klaviers aus. “Die Stücke basieren entweder auf abstrakten graphischen Ideen oder entfernten Echos von Kompositionen aus anderen musikalischen Umgebungen.”
Im Jazz gibt es bislang nur wenige Beispiele für diese Art von teilweise geradezu aphoristischen Stücken (das kürzeste weist eine Laufzeit von gerade einmal 56 Sekunden auf). Tangentielle Ähnlichkeiten findet man eher in der zeitgenössischen Klassik und den Piano-Werken von Komponisten wie John Cage und György Kurtág.
Jon Balke wurde 1955 im norwegischen Hamar geboren und begann seine professionelle Musikerlaufbahn mit 18 Jahren als Begleiter der Sängerin Karin Krog. Als Mitglied der Band des Bassisten Arild Andersen machte er schon 1974 seine erste Aufnahme für ECM. Danach arbeitete er mit internationalen Jazzkünstlern wie John Surman, Archie Shepp und Zbigniew Namyslowski zusammen. Schon früh überschritt er die Grenzen des Jazz und experimentierte mit Musikern aus Indien und diversen afrikanischen Ländern.
Ab 1982 komponierte Jon Balke immer komplexere Werke, die er unter anderem mit seinen Bands Oslo 13 und Magnetic North Orchestra aufführte. Mit Oslo 13 nahm er für ECM 1990 das Album “Nonsentration” (ECM 1445) auf, mit dem Magnetic North Orchestra 1993 “Further” (ECM 1517), 2001 “Kyanos” (ECM 1822) und 2003 “Diverted Travels” (ECM 1886). Darüber hinaus war Balke – mit Arild Andersen, Nils Petter Molvær, Tore Brunborg und Jon Christensen – Gründungsmitglied der Band Masqualero, die 1985 mit dem Album “Bande À Part” bei ECM debütierte. Sein letztes ECM-Album unter eigenem Namen, “Statements” (ECM 1932), legte der Pianist 2004 mit dem perkussionslastigen Ensemble Batagraf vor.