Die Initialzündung für sein neuestes Projekt mit dem Namen “Siwan” verdankte Jon Balke “einer simplen, intuitiven Beobachtung von Ähnlichkeiten zwischen zwei wundervollen Traditionen und Klanglandschaften”. Als er das erste Mal der außerordentlichen Stimme und des melodischen Einfallsreichtums von Amina Alaoui gewahr wurde, erinnerte ihn dies gleich an das “glanzvolle Universum” sogenannter Früher Musik, so wie er diese durch die aufregenden Interpretationen von Bjarte Eikes Barokksolistene (Barocksolisten) kannte. Mit seinem Projekt “Siwan” versuchte Balke diese vergangene Epoche neu zu inszenieren. Und herausgekommen ist dabei ein unglaublich ausdrucksvolles, geradezu unwiderstehliches Album.
Während Jon Balkes Siwan diese Klangwelten zusammenzubrachte, gewann das Projekt noch zusätzliche Dimensionen: die Stücke greifen Themen wie “die musikalische und politische Geschichte Europas, die Dichtkunst des mittelalterlichen al-Ándalus, aktuelle Politik und interkulturelle menschliche Beziehungen” auf.
In Aljamiado (einer lateinisch-arabischen Hybridschriftsprache, die im mittelalterlichen Andalusien – al-Ándalus – entstand) bedeutet “Siwan” soviel wie Balance oder Gleichgewicht. al-Ándalus war im sogenannten Dunklen Zeitalter ein Zentrum der Gelehrsamkeit, in dem muslimische, christliche und jüdische Gelehrte auf einzigartige Weise Ideen austauschten. Auf “Siwan” sinniert Balke nun darüber, was damals auf den Scheiterhaufen der Inquisition für immer verlorengegangen sein könnte. Balke macht zum Beispiel darauf aufmerksam, daß es erstaunliche Ähnlichkeiten zwischen den Schriften der Sufi-Poeten und jenen katholischer und sephardischer Mystiker gibt. Deutlich wird dies etwa in den gesungenen Texten von dem Märtyrer Mansur al-Halladsch (”Thulâthiyat”) und Juan de la Cruz (“Toda ciencia trascendiendo”).
Von der andalusischen klassischen Musik heißt es, daß sie im 9. Jahrhundert am Hof von Córdoba geboren wurde. Das maurische Spanien war ein Zentrum, von dem aus musikalische Idiome und Instrumente weite Verbreitung fanden. Bei ihrem “Siwan”-Projekt versuchten Jon Balke, Amina Alaoui und die restlichen Musiker nun in modernem Geiste die gemeinsamen Nenner der andalusischen Musik, der frühen Barockmusik und des Jazz hervorzuheben: alle drei Idiome zeichnen durch Flexibilität sowie die Offenheit für Interpretation und Improvisation aus und jedes dieser Idiome ist reich an Formen und Variationen.
Die Musik für das “Siwan”-Projekt war eine Auftragskomposition, die Balke von dem multikulturellen Osloer Veranstaltungshaus Cosmopolite erhielt. Gleich von Beginn an arbeitete der norwegische Komponist dabei eng mit Amina Alaoui und dem Violinisten Kheir Eddine M’Kachiche zusammen. Als Gastsolisten holte Balke außerdem den amerikanischen Trompeter Jon Hassell dazu. Balke, der schon seit geraumer Zeit dafür bekannt ist, ein einfühlsamer Komponist und Arrangeur für große Ensembles zu sein, gelang mit “Siwan” ein absolutes Meisterwerk, in dem er den sehr unterschiedlichen Solisten viel Freiraum zur eigenen Entfaltung und zum Austausch mit allen anderen ließ.
Das Album wurde zwischen September 2007 und Mai 2008 unter der Leitung von Produzent Manfred Eicher aufgenommen. Seit der Einspielung von “Siwan” ist das Ensemble mit dem Repertoire schon in Bergen, Stavanger und Kairo aufgetreten. Am 18. Juni wird sich das Projekt beim “Shared Sounds”-Festival im Berliner Radialsystem V präsentieren.
Der norwegische Pianist Jon Balke stieß schon früh zum Kreis der ECM-Künstler: erstmals hören konnte man ihn 1975 als nicht einmal 20jährigen auf Arild Andersens Album “Clouds In My Head” (ECM 1059). Während Balke anfänglich nur in den Bereichen Jazz und World Music tätig war, komponiert er mittlerweile auch viel Musik für Theater- und Tanzaufführungen, Kammerensembles und Sinfoniettas. Seit 1992 ist er Leiter des Magnetic North Orchestra, mit dem er für ECM die Alben “Further” (ECM 1517 ÷ 1993), “Kyanos” (ECM 1822 ÷ 2001) und “Diverted Travels” (ECM 1886 ÷ 2003) aufnahm. Außerdem war er der Initiator des Batagraf-Projekts, mit dem er 2005 das Album “Statements” (ECM 1932) vorlegte, spielte für das Label 2006 sein Pianosoloalbum “Book Of Velocities” (ECM 2010) ein und produzierte das Album “Tuki” (ECM 1971) des afrikanischen Perkussionisten Miki N’Doye.
Sängerin Amina Alaoui wurde im marokkanischen Fez geboren. Ihr musikalischer Werdegang ist fest in der marokkanischen Gharanati-Tradition verwurzelt, die starke Verbindungen zum portugiesischen Fado, dem spanischen Flamenco und der al-Ándalus-Musik aufweist.
Der aus Memphis stammende Trompeter Jon Hassell fand nach Studien bei Stockhausen und dem indischen Gesangsmeister Pandit Pran Nath Zugang zur New Yorker Minimalistenszene und schuf danach seine sogenannte “Fourth World”-Musik – eine Musik, die Hassell selbst einst als
“ein sinnliches Koordinatensystem” beschrieb, “in dem sich für die Balance zwischen uralter Weisheit und neuesten Technologien organische Formen finden lassen”. Mit seinem 1983/84 aufgenommenen Album “Power Spot” (ECM 1327), das letztes Jahr in der Reihe “ECM Touchstones” wieder neu aufgelegt wurde, übte Hassell auf weite Bereiche der zeitgenössischen Musik großen Einfluß aus. Mit “Last Night The Moon Came Dropping Its Clothes In The Street” (ECM 2077) brachte der Trompeter gerade erst ein neues Album bei ECM heraus.
Der virtuose Violinist Kheir Eddine M’Kachiche ist Algerier. Aufbauend auf der Tradition der arabisch-andalusischen Musik fand er in Zusammenarbeiten mit Amina Alaoui und Barrio Chino sowie in jüngster Zeit auch Cheb Khaled und Jon Hassell zu seiner eigenen Stimme.
Obwohl er erst 37 Jahre alt ist, gilt Bjarte Eike schon als Veteran der Frühen Musik. Nach Studien in Bergen und London etablierte er sich in Kopenhagen schnell als führender Violinist für Frühe Musik. Er ist u.a. Mitglied von Jon Balkes Magnetic North Orchestra und leitet seit 2005 das Ensemble Barokksolistene (Barocksolisten).
Der aus Teheran stammende Pedram Khavar Zamini spielt auf seiner persischen Tombak-Handtrommel (die teilweise auch unter den Namen Tonbak, Dombak, Donbak oder Zarb bekannt ist) sowohl traditionelle als auch moderne Rhythmen. Er gilt als moderner Meister der persischen klassischen Musik.
Den norwegischen Perkussionisten Helge Norbakken kennt man in ganz Europa durch sein Zusammenspiel mit den Sängerinnen Mari Boine und Maria João. Norbakken ist ein profunder Kenner der Rhythmen aus den unterschiedlichsten Kulturkreisen und der Jazztradition. Mit Balke arbeitete er zuvor schon im Magnetic North Orchestra und beim Projekt Batagraf zusammen.
Der deutsche Lautenspieler Andreas Arend war Schüler von Nigel North und ist ebenso sehr für seine Flexibilität wie für seine Virtuosität bekannt. Er spielt vor allem mit bekannten Barock- und Renaissancemusik-Ensembles.
In seinem Ensemble Barokksolistene (Barocksolisten) vereinte Bjarte Eike einige der besten Musiker der europäischen Frühen Musik. Cellist Tom Pitt und Violinist Peter Spissky – die gemeinsam mit Eike auch schon unter dem Namen Baroque Fever auftraten – haben ebenfalls mit Jon Balkes Magnetic North Orchestra gespielt. Den Violinisten und Violaspieler Miloš Valent hingegen konnte man bereits mit John Potters Dowland Project (“Romaria”) und Iva Bittová (“Mater”) auf ECM-New Series-Alben hören.