Julia Hülsmann | News | Unter der Oberfläche brodelt es mehr denn je

Unter der Oberfläche brodelt es mehr denn je

Für ihr neues Album “Under The Surface” hat die Pianistin Julia Hülsmann ihr bestens eingespieltes Quartett mit der norwegischen Trompeterin Hildegunn Øiseth stellenweise zum Quintett erweitert.
Julia Hülsmann Quartet
Julia Hülsmann Quartet(c) Volker Beushausen / ECM Records
27.01.2025
Seit beinahe 25 Jahren spielt die Pianistin Julia Hülsmann mit dem Bassisten Marc Muellbauer und dem Schlagzeuger Heinrich Köbberling im Trio, das sie im Laufe der Zeit immer wieder durch Gäste erweitert oder zum Quartett ausgebaut hat. Als der Tenorsaxofonist Uli Kempendorff 2019 auf “Not Far From Here” erstmals zu Julias Trio stieß, bemerkten viele Kritiker, dass das Zusammenspiel der Band durch ihn einen neuen, expressionistischen Drive bekommen habe. Dieser wird nun auf dem aktuellen Album “Under The Surface” in fünf Stücken durch die erfrischende neue Stimme der norwegischen Trompeterin Hildegunn Øiseth noch einmal potenziert. Gemeinsam präsentieren die fünf Musiker/innen eine Reihe reizvoller Originale, in denen sie mit viel Bedacht und Abenteuerlust Gemeinsamkeiten ausloten. 
In einer Rezension ihres letzten Albums “The Next Door” lobte Sebastian Scotney in The Arts Desk die perfekte Chemie des Quartetts und bemerkte: “Man spürt, wie sich diese Band weiterentwickelt hat und nun alle möglichen Wege findet, einen überzeugenden Flow und ein schlüssiges Narrativ zu kreieren.” Das gilt auch für “Under The Surface”. Gleichzeitig werden hier aber auch neue Stimmungen erschlossen und neue melodische Interaktionsformen im Zusammenspiel mit Øiseths eigenwilligem Sound etabliert.
Mit der Trompeterin hatte Julia Hülsmann zuvor schon im Large Ensemble der Schweizer Saxophonistin und Komponistin Sarah Chaksad gespielt, mit dem sie im März 2023 auch das Album “Together” aufnahmen. Der Funke für eine weitergehende Zusammenarbeit sprang aber erst über, als Hildegunn Øiseth im Sommer 2023 bei einem Konzert in Berlin zum Quartett der Pianistin stieß. “Da haben wir beschlossen, zusammen eine Platte aufzunehmen”, erzählt Julia. “Zu diesem Zeitpunkt waren wir bereits ausgiebig als Quartett auf Tour gewesen und hatten eine sehr solide Basis entwickelt. Das war sicher mit ein Grund für die Idee, der Band eine weitere Stimme hinzuzufügen. Da wir in den letzten Jahren schon unseren speziellen Gruppensound etabliert hatten, mussten wir nicht bei Null anfangen, als wir Hildegunn einluden. Sie passte auf Anhieb großartig zu uns. Und ich wusste ja auch, wie sie klingt und was sie musikalisch macht, vor allem live. Das heißt, bevor wir ins Studio gingen, hatte ich bereits eine ungefähre Vorstellung davon, wie und wo sie in den Sound unseres Ensembles passen würde.”
In “May Song”, einer Komposition des Schlagzeugers Heinrich Köbberling, knüpft das Quartett zum ersten Mal behutsam eine Verbindung mit der Hornistin, wobei die Stimmen von Saxofon und Trompete beim Vortragen der zutiefst lyrischen Melodie miteinander verschmelzen. In “Bubbles”, einem weiteren Original aus der Feder von Köbberling, ist Hildegunn Øiseth erneut zu hören, zunächst mit sanften Rubatolinien auf der Trompete und dann mit fragileren Phrasen auf einem aus Ziegenhorn gefertigten Bukkehorn. Die formale Struktur der Komposition erinnert an ein Tryptichon: Das Stück beginnt mit lockeren kammermusikalisch-jazzigen Interaktionen, dann treten Julia und Hildegunn in einen tiefen Dialog miteinander, bevor sie im Finale mit der ganzen Band in beschwingtere lyrische Gefilde vorstoßen.
Wie auf den beiden vorherigen Alben steuerte auch diesmal jedes Mitglied des Quartetts eigene Stücke bei, wobei Julia Hülsman selbst für die Hälfte des Programms verantwortlich zeichnet. In den Nummern, in denen nur das Kernquartett zu hören ist, wirkt das Zusammenspiel ausgelassener und ungebundener denn je zuvor. Julias post-boippige Komposition “They Stumble, They Walk”, mit der das Album beginnt, ist ein Paradebeispiel für die swingenden Qualitäten des Quartetts und die außergewöhnlichen pianistischen Fähigkeiten der Bandleaderin. Im verträumten “The Earth Below” -  einem Duostück mit Hildegunn – kommt wiederum Julias melodiöser innerer Kompass zum Vorschein. Wie breit das musikalische Spektrum von Julias Kompositionen ist, zeigen auch “Anti Fragile”, “Trick” und das Titelstück “Under The Surface”, mit dem das Album endet. Glänzend unterstützt wird die Pianistin von Musikern, die auf jede ihrer spontanen Ideen adäquat zu reagieren wissen.
“Für mich ist es wichtig, völlig gegensätzliche Stücke zu schreiben, auch wenn es manchmal schwer ist, seinem eigenen Schatten zu entkommen”, sagt Julia. “Aber das ist auch ein natürlicher Prozess, der aus inneren Gedanken und Gefühlen entsteht. ‘Anti Fragile’ zum Beispiel habe ich in einem Moment geschrieben, in dem ich ziemlich wütend war. Das wollte ich auch in die Musik übertragen, um zu zeigen, dass jede Persönlichkeit verschiedene Facetten hat. Musik ist nicht nur ‘schön’, sie kann auch rau sein. Oder aggressiv. Eben ‘nicht fragil’”, sagt sie lachend. “‘The Earth Below’ hingegen drückt das Bedürfnis aus, sich geerdet zu fühlen, mit beiden Beinen fest auf dem Boden zu stehen, wie wir auf Deutsch sagen. Manchmal suche ich bewusst nach einem anderen Blickwinkel oder einer anderen Stimmung in meiner Musik. Aber meistens zieht es mich instinktiv dorthin – erst dann fange ich an, die Musik von einem technischen, kompositorischen Standpunkt aus zu theoretisieren.”
Fesselnder Lyrismen und ausgelassene rhythmische und melodische Interaktionen ziehen sich wie ein roter Faden durch “Under The Surface”. Und “Second Thoughts”, eines von zwei Stücken, die Marc Muellbauer zum Repertoire des Albums beigesteuert hat, bildet da keine Ausnahme. Das Lied hat eine verwinkelte Melodie, die von der Rhythmusgruppe mit einem  sanften Puls untermalt wird.  Bei “Nevergreen”, dem anderen Original des Bassisten, entwickelt die Band einen subtilen Groove, bei dem sich die Bläser unisono umschlingen, bevor Saxofon und Trompete zu solistischen Höhenflügen ansetzen – wobei Kempendorff eher boppig spielt, während Hildegunn einen expressiveren Ansatz zeigt. “Milkweed Monarch”, eine Eigenkomposition des Saxofonisten,  ist vielleicht das swingendste Stück des Albums – hier spielen sich die Musiker lustvoll gegenseitig die Bälle zu, wobei Muellbauer, Kempendorff und Julia jeweils ein Solo beisteuern.
“Wir sind offen für alles, was mit der Musik passiert, während sie sich im Laufe der Zeit natürlich entwickelt und verändert”, sagt Julia. “Wir legen uns nicht darauf fest, die Musik auf eine bestimmte Art zu spielen, sondern lassen sie jedes Mal eine neue Gestalt annehmen.” Und genau auf diese Weise gelingt es der Band, die Dinge auf “Under The Surface” frisch zu halten. Das Album, das im Juni 2024 im Rainbow Studio in Oslo aufgenommen wurde, ist zweifellos ein besonderes Juwel in Julia Hülsmanns immer beeindruckenderem ECM-Œuvre.
Bereits im Februar und März wird das Julia Hülsmann Quartett mit dem neuen Programm auf Deutschlandtournee gehen: https://www.jazzecho.de/julia-huelsmann/termine