Alben, die eine Geschichte erzählen wollen, sind eine Seltenheit geworden. Das mag zum einen daran liegen, dass die Aufmerksamkeitsspanne des Publikums heute generell kürzer ausfällt. Aber auch daran, dass im Zeitalter des Musikdownloads viele Konsumenten dazu übergegangen sind, sich nur noch einzelne Songs aus dem Repertoire herauszupicken und ein Album nicht mehr als Gesamtkunstwerk wahrzunehmen. Solche “Musikfans”, die der Meinung sind, dass Alben ohnehin zu 90 Prozent aus Füllmaterial bestehen, sollten von Julian Lages “Gladwell” vielleicht besser gleich die Finger lassen. Denn das verdient es wirklich, in vollem Umfang gehört zu werden.
Schon auf seinem Debütalbum “Sounding Point”, das 2009 für einen Grammy nominiert wurde, überraschte der heute 23-jährige Gitarrist mit ungewöhnlich ausgereiftenm und cleveren, zugleich aber auch eingängigen Kompositionen. Das Kulturmagazin Time Out New York beschrieb seine Musik damals als “federnde, intelligente Americana-Kammermusik, die perfekt in dasselbe Spektrum passt wie die Musik von Nonesuch-Künstlern wie Bill Frisell und Chris Thiles Punch Brothers”. Mit “Gladwell” legt Lage nun ein noch einfallsreicheres und ausgesprochen charmant konzipiertes zweites Werk vor. Eingespielt hat er es mit seiner ungewöhnlich besetzten und überaus eklektischen Band mit Cellist Aristides Rivas, Perkussionist Tupac Mantilla, Bassist Jorge Roeder und Saxophonist Dan Blake.
Auf dem Album entführt Julian Lage die Hörer in ein imaginäres, vergessenes Städtchen namens “Gladwell”. Dafür entwarf er mit seiner Band ein phantasievolles Szenario. “Wir hatten die Idee, uns eine Geschichte auszudenken, die wir beim Schreiben der Songs als Leitlinie benutzen konnten”, erinnert sich der junge Gitarrist. “Das Resultat war, dass wir eine imaginäre und vergessene Stadt entwarfen, die wir Gladwell nannten. Als Metapher versorgte uns Gladwell mit einer klaren Architektur, um Songs zu komponieren, die Erinnerungen an Menschen und Orte heraufbeschwörten, die uns viel bedeuten.”
“Einige Lieder handeln von bestimmten Orten in der Stadt”, fährt Lage fort, “während andere Stücke einfach nur in das musikalische Gesamtkonzept passen. Wir wollen die Hörer mit unserer Musik dazu ermuntern, an jeder Straßenecke einen Schritt ins Unbekannte zu wagen …” Auf diese Weise gelingt es der Band, nicht nur die eigene Fantasie, sondern auch die der Hörer zu beflügeln.
Wie schon bei “Sounding Point” zeigt Lage auch auf “Gladwell”, dass seine musikalischen Interessen und Talente vielseitig sind: in den Kompositionen für das neue Album verarbeiteten er und seine Bandgefährten Einflüsse von europäischer Kammermusik, amerikanischem Folk und Bluegrass, lateinamerikanischer Musik, der String-Band-Tradition, Weltmusik und modernem Jazz. Zu dem Song “Margaret” wiederum ließ sich Lage von einer guten Freundin inspirieren: der Sängerin und Songschreiberin Margaret Glaspy, mit der er schon oft die Bühne teilte. Das von Saxophonist Dan Blake geschriebene “However” vereint hingegen Afro-Pop-Elemente mit irischer Fiddle-Musik und amerikanischem Folk. Willkommen in Gladwell!
Anfang Mai wird die Julian Lage Group ihr neues Album bei zwei Konzerten in Deutschland vorstellen: am 6. Mai gastiert sie im Alten Pfandhaus in Köln, einen Tag später im Berliner A-Trane. Julian Lage kehrt außerdem am 9. Juli als Mitglied des New Gary Burton Quartet für einen Auftritt beim Jazzfestival in Memmingen nach Deutschland zurück.