Das Trio, das Keith Jarrett von 1966 bis 1971 mit Charlie Haden und Paul Motian unterhielt, ist eines jener Ensembles, deren wahrer Stellenwert erst retrospektiv richtig erkannt wurde. Sicherlich sorgte es schon damals bei Kritikern für gewisses Aufsehen, aber Jarrett erklomm den Gipfel seiner Popularität erst, nachdem er bei ECM Records eine Reihe brillanter Soloalben veröffentlicht hatte. Das allererste dieser Soloalben, “Facing You”, war im November 1971 aufgenommen worden und erschien im April 1972. Drei Monate nach der Veröffentlichung gastierte der Pianist im Rahmen der ersten Europa-Tournee mit seinem Trio im NDR-Funkhaus in Hamburg. Dabei wurden die Aufnahmen mitgeschnitten, die nun – über 40 Jahre nach ihrer Entstehung – unter dem Titel “Hamburg ‘72” erstmals auf CD vorgelegt werden. Das Trio, das zum Zeitpunkt der Aufnahme bereits seit fünf Jahren zusammenspielte, stand damals im Zenit seiner Kreativität.
Manfred Eicher griff auf die analogen Originalaufzeichnungen des NDR-Toningenieurs Hans-Heinrich Breitkreuz zurück und mischte diese im Juli 2014 zusammen mit Jan Erik Kongshaug in Oslo neu ab. Wie es der Zufall wollte, just einen Tag nach Charlie Hadens Tod. In Haden und Motian hatte Jarrett 1966 kongeniale Partner für sein Trio gefunden, mit denen er die ganze Bandbreite des modernen Jazz ausloten konnte: geradezu traumwandlerisch wechselte das Trio zwischen poetischen Balladen, kraftvoll swingenden Stücken und atemberaubenden freien Improvisationen, bei denen Jarrett teilweise zum Sopransaxophon griff. Viele Kritiker zogen Vergleiche mit der Musik von Ornette Coleman und Bill Evans. Was nicht überrascht, da Haden sein Handwerk im bahnbrechenden Quartett von Ornette Coleman gelernt hatte und Motian zuvor Mitglied des legendären Bill Evans Trios gewesen war.
Dennoch verlieh Jarrett der Musik seines Trios natürlich eine ganz eigene Handschrift. “Die Musik, die dieses Ensemble erschuf, gehört zu der großartigsten jener Epoche”, meinte Charlie Haden vor einigen Jahren in einem Interview mit Ethan Iverson. “Keith hatte schon immer seinen eigenen Kopf und als Leader originelle Ideen. Er schrieb seine Stücke speziell für uns. Was mir ausgezeichnet gefiel. Er tauchte bei jeder Probe und jedem Soundcheck mit neuer Musik auf. Es ist fantastisch, wenn man beim Soundcheck ein neues Stück durchgeht und gar nicht erwarten kann, es beim Konzert am selben Abend zu spielen, weil man sich bereits mit ihm identifiziert.”
Da dieses fabelhafte Trio nur drei Alben eingespielt hatte – “Life Between The Exit Signs” (1967), “Somewhere Before” (1968) und “The Mourning Of A Star” (1971) -, ist der spannende Live-Mitschnitt “Hamburg ‘72” weit mehr als nur eine willkommene Ergänzung.
Keith Jarrett, Charlie Haden und Paul Motian im Zenit ihrer Kreativität.