Als der Pianist Keith Jarrett im Januar 1983 mit Bassist Gary Peacock und Schlagzeuger Jack DeJohnette das Album “Standards” einspielte, machte der Zusatz “Volume 1” zwar schon deutlich, daß dieser überraschende Ausflug in die Welten des “Great American Songbook” kein einmaliges Ereignis bleiben würde. Allerdings hätte sich damals niemand träumen lassen, daß von diesem Trio in den folgenden annähernd zwei Jahrzehnten noch zehn weitere Alben (inklusive dreier Doppelalben und einer 6-CD-Box) mit Standards veröffentlicht werden würden und so eine der umfangreichsten Kollektionen mit modernen Interpretationen von Tin Pan Alley-Schlager und Broadway-Melodien entstehen würde.
Die Verwunderung war 1983 deshalb so groß, weil Keith Jarrett auf seinen bis dahin bei ECM erschienenen Alben entweder vor allem selbst geschriebene Songs eingespielt hatte oder gleich ganz seiner schier unerschöpflichen Phantasie als Improvisator freien Lauf gelassen hatte. Wobei angemerkt werden muß, daß dieser Einfallsreichtum, der Jarrett, Peacock und DeJohnette beim Spielen der wohlbekannten Standard-Themen immer wieder neue Interpretations- und Improvisationsansätze finden ließ, gerade auch den Erfolg des Trios bei Kritik und Publikum ausmachte. Es kommt also nicht von ungefähr, daß Jarrett, Peacock und DeJohnette in Jazzkreisen seit einigen Jahren schlicht als “das Standards-Trio” bekannt sind: ein Trio, das allerdings nicht nur Standards spielt, sondern dabei auch Standards setzt.
“Inside Out” ist nun schon die vierzehnte Veröffentlichung dieses Trios in 18 Jahren. Die Aufnahmen für dieses Album wurden bei zwei großartigen Konzerten in der Londoner Royal Festival Hall mitgeschnitten und fallen – so wie schon 1984 “Changes” und 1989 “Changeless” – aus dem üblichen Rahmen des Standards-Trios. Denn mit Ausnahme des Klassikers “When I Fall In Love” spielen Jarrett, Peacock und DeJohnette hier Stücke, die aus der Improvisation entstanden sind. Für die zahlreichen Fans dieses außergewöhnlichen und auch außergewöhnlich beständigen Trios, die zugleich auch den Improvisator Keith Jarrett verehren, dürfte damit ein lange Zeit gehegter Traum in Erfüllung gehen. Und die Kritiker, die sich zuletzt schon vereinzelt Gedanken machten, ob Jarrett vielleicht die eigenen Ideen ausgegangen seien, erhalten in Form dieser Improvisationen endlich eine sicherlich befriedigende Antwort auf ihre Frage.
“Das Trio hat sich bislang überwiegend auf bereits vorhandenes Material konzentriert, das als Ausgangsbasis fürs Improvisieren benutzt wurde”, schreibt Keith Jarrett in den Linernotes dieser CD. “Aber ich war immer schon daran interessiert, die Dinge von innen nach außen zu kehren. Deshalb meinte ich während einer Europa-Tournee zu Jack und Gary, daß wir vielleicht das Format fallenlassen sollten – die ganze Idee, überhaupt irgendwelches Material zu benutzen… Wir alle haben in den 60er Jahren häufig das sogenannte ‘freie’ Spiel ausprobiert und verfügen über genügend Erfahrung, dahin zurückzukehren…” Jarrett meint zurecht, daß freies Spielen “ein erstaunlich wichtiger Bestandteil der wahren Jazzgeschichte” sei, auch wenn dieser Aspekt von Jazzchronisten oft vertuscht wird. Das Spiel ohne Netz und doppelten Boden stellt besondere Herausforderungen an die Musiker: “Wir müssen noch mehr mit einander im Einklang stehen, um so – ohne Material – zu spielen; und wir müssen noch aufmerksamer sein. Wenn man die Melodien wegläßt, stehen einem alle Möglichkeiten offen. Aber nur einige wenige sind unter diesen Umständen wirklich gültig. Ob man Erfolg hat oder scheitert, hängt alleine davon ab, ob man das Einfühlungsvermögen hat, den Fluß der Dinge nicht zu zerstören.”
Gary Peacock und Jack DeJohnette verfügen über eine Menge Erfahrung auf dem Gebiet des freien Spiels. Peacock agierte in den 60er Jahren in New York an nahezu allen Fronten der Free Jazz-Revolution. Er war an der Einspielung von Albert Aylers exaltierten Meisterwerken “Bells” und “Ghosts” ebenso beteiligt wie an den tiefsinnigen Free-Balladen des Paul Bley Trios. Noch heute begibt der Bassist sich in Gesellschaft der Pianistin Marilyn Crispell regelmäßig auf freies Terrain.
Während Peacock in New York an den Grundfesten der Jazzkonventionen rüttelte, verfolgte Jack DeJohnette auf der South Side Chicagos ähnliche Ziele. 1963 war er Mitglied von Muhal Richard Abrams bahnbrechender Experimental Band, in der damals den Grünschnäbeln Roscoe Mitchell und Joseph Jarman gerade die Flügel wuchsen, mit denen ein paar Jahre später das legendäre Art Ensemble Of Chicago zu avantgardistischen Höhenflügen starten sollte. 1966 ging DeJohnette nach New York, um Elvin Jones in der Gruppe von John Coltrane abzulösen. Im selben Jahr stieg er auch in das Quartett des Saxophonisten Charles Lloyd ein, in dem außerdem ein gewisser Keith Jarrett Mitglied war. Danach stieß der Schlagzeuger zu Miles Davis' elektrischer Band, wo er zeitweise – etwa auf den Alben “Live/Evil” und “Miles Davis At Fillmore” – wieder Seite an Seite mit Keith Jarrett spielte. Im Duo mit dem britischen Saxophonisten und Klarinettisten John Surman unternimmt Jack DeJohnette auch heute noch gelegentliche Ausflüge ins offene Feld der freien Improvisation.
Auch der große Melodiker Keith Jarrett hat sich immer wieder auf das freie Spiel eingelassen. Etwa in dem Quartett, das er mit Dewey Redman, Charlie Haden und Paul Motian in den 70ern unterhielt und das für Atlantic wesentlich melodieungebundenere Aufnahmen machte als zur gleichen Zeit Jarretts skandinavisches Quartett für ECM. Auch Jarretts Solokonzerte waren vor allem immer eines: frei improvisiert. Dasselbe galt für Einspielungen wie “Spirits” oder “Book Of Ways” oder die experimentellen Barock-Orgel-Alben “Hymns/Spheres” und “Incantations”, die teilweise sehr wenig mit Jazz zu tun hatten.
Das freie Spiel, das Jarrett, Peacock und DeJohnette bei den Konzerten in der Royal Festival Hall an den Tag legten, hat seine Wurzeln hingegen eindeutig im Jazz. “Wenn man diese Aufnahmen hörte, sollte einem bewußt werden, wie wichtig bei ihnen der Blues war”, bemerkt der Pianist. “Wir kamen in London einfach nicht umhin, uns der Sprache des Blues zu bedienen. Selbst im Kontext des freien Spiels. Der Blues ist so durchdringend und wirklich.”
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