Einen singulären Platz in der Jazzgeschichte sicherte sich Keith Jarrett bereits in den 70er Jahren, als er mit fantasievollen Soloimprovisationen von oftmals wahrlich epischer Länge die Auditorien in aller Welt fesselte. Sein unstrittiges Meisterwerk in dieser Kategorie entstand 1975: das legendäre “Köln Concert” avancierte zum wohl bestverkauften Pianosolo-Album aller Zeiten und bereicherte selbst Plattensammlungen, in denen Jazz ansonsten durch Abwesenheit glänzt. Ein wohlbekanntes Sprichwort indes besagt: In der Kürze liegt die Würze. Und dies muß wohl auch dem amerikanischen Pianisten zu Ohren gekommen sein. Denn in letzter Zeit vollzog er die Wandlung vom improvisierenden Marathonmann zum Mittel- und Kurzstreckenläufer. Der Prozess, der sich bereits auf den Alben “Radiance” und “Tokyo Live” abzeichnete, wurde auf “The Carnegie Hall Concert” nun zu höchster Vollendung geführt.
Auch wenn der am 8. Mai 1945 in Allentown/Pennsylvania geborene Keith Jarrett nicht der erste Jazzpianist war, der sich mit Solokonzerten einen Namen machte, so hat er mit seinem für das Münchner ECM-Label eingespielten Solo-uvre in mehrfacher Hinsicht neue Maßstäbe gesetzt. Im November 1971 nahm er für das Label von Produzent Manfred Eicher im Studio sein erstes Soloalbum
“Facing You” auf. Zwei Jahre später folgte das Dreifachalbum
“Solo Concerts Bremen/Lausanne” und 1975 auf einem Doppelalbum das epochale Meisterwerk
“The Köln Concert”. In den folgenden rund drei Jahrzehnten sollten noch zwölf weitere Pianosoloveröffentlichungen folgen, darunter Interpretationen einiger klassischer Werke und die sechs CDs fassende Box
“Sun Bear Concerts”. Sein vorerst letztes Solokonzert ließ Jarrett dann 1995 in der Mailänder Scala aufzeichnen. Es erschien 1997 auf dem Album
“La Scala”. Danach schränkten die Auswirkungen einer chronischen Erschöpfungskrankeit (CFS – Chronic Fatigue Syndrome), an der Jarrett litt, den Pianisten in seiner künstlerischen Tätigkeit weitgehend ein.
Als Keith Jarrett im Juli 2001 in einem Interview mit Wolfgang Sandner von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die Bemerkung fallen ließ, daß er sich vorerst nicht vorstellen könne, wieder Solokonzerte zu geben, dürfte seinen Fans in aller Welt sicher das Herz gestockt haben. Doch schon ein Jahr später strafte sich Jarrett selber “Lügen”, als er 2002 in Tokio und Osaka Solokonzerte gab, die für die Veröffentlichung auf der Doppel-CD “Radiance” und der DVD “Tokyo Solo”aufgezeichnet wurden. Die beiden Werke erschienen allerdings erst drei Jahre nach der Einspielung.
Am 26. September 2005 kam es dann zu einem erneuten Solokonzert in der New Yorker Carnegie Hall. Selten hat man Jarrett in solch ausgelassener Spiellaune erlebt wie bei diesem Auftritt in New Yorks feinster Musikadresse. Als Jarrett letztes Jahr im Isaac Stern Auditorium der Carnegie Hall gastierte, war dies sein erstes Solokonzert auf heimischem Boden in zehn Jahren! Nie zuvor auch hatte sich der Pianist mit einer solchen stilistischen Bandbreite präsentiert. Das Programm wirkt wie ein Streifzug durch die amerikanische Musikgeschichte. Es enthält Boogie-Woogie, Gospel, Blues, Funk, Country, elegische Hymnen. Es ist ein Wechselbad der Stimmungen, mal intensiv lyrisch oder eher klassisch-impressionistisch, dann wieder zupackend funky oder tonal völlig frei.
Für viele Kritiker stand nach dem Konzert fest, daß sie der Entstehung eines neuen Albumklassikers beigewohnt hatten, der – obwohl gänzlich anders – den Vergleich mit dem fabelhaften “Köln Concert” nicht zu scheuen braucht. Wie exzellent Keith Jarrett an diesem Abend aufgelegt war, zeigen nicht zuletzt die fünf gespielten Zugaben: darunter das wunderbare “Paint My Heart Red” (das er 1981 auf “Concerts” noch unter dem Titel “Mon coeur est rouge” präsentiert hatte), eine Interpretation des Standards “Time On My Hands” und ein Remake von “My Song”, jenem traumhaften Ohrwurm, den der Pianist vor über dreißig Jahren mit seinem skandinavischen Quartett für das Album “Belonging” aufgenommen hatte.
“'The Carnegie Hall Concert' gehört zum Faszinierendsten, was ich je auf einem Flügel gehört habe, in einer akustischen Aura, die die Carnegie Hall so magisch macht”, schwärmte Michael Naura in der Zeit. “Daß mit dem kleinen Einmaleins in der Musik nicht viel anzufangen ist, sondern das kaum Faßbare eine wesentliche Rolle spielt, ist nichts Neues. Auch daß der Jazz in ganz besonderem Maße ein nicht kalkulierbares Risiko birgt, weil er sich durch das Element der Improvisation a priori ungezügelt verhält, auch das ist keine neue Erkenntnis. Wirklich neu ist, daß ein Pianist wie Keith Jarrett sich ans Klavier setzt und behauptet, er hätte alles vergessen. Seinen gewaltigen Erfahrungsschatz, seine Zeit mit Charles Lloyd und Miles Davis, all das tritt er mit Füßen. Seine glorreiche Vergangenheit, für die die meisten Musiker ihre Mutter verraten würden, interessiert ihn nicht. Was ihm am meisten Schrecken einflößt, ist, daß er sich wiederholen könnte. Um das zu vermeiden, bedient sich Jarrett eines Prinzips, das schon Laotse kannte: ‘Verlernt das Gelernte, werft übertriebenes Wissen von euch; so reift euch hundertfältiger Gewinn.’ Und aus dem Flügel steigen jetzt ‘True Blues’ und ‘My Song’ wunderbar! Keith Jarrett versetzt mich in außerirdische Gefilde.”
Aufnahme am 26. September 2005 in der Carnegie Hall in New York (CD Veröffentlichung September 2006) – Weitere Veröffentlichungen der Soloprojekte von Keith Jarrett finden Sie
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