Auf “Fasıl”, seinem ersten Album für ECM, hält der Gitarrist Marc Sinan phantasievoll musikalische Ideen des Westens und des Orients gegeneinander, wie “Rosenkränze und Tesbihs” (die islamischen Gebetsketten). Das aufregende Projekt steht in engem Zusammenhang mit Sinans eigener Biographie. Als Sohn einer armenischstämmigen Türkin und eines Deutschen wuchs er mit einem ausgeprägten Gefühl für beide Kulturen auf. Die Idee zum “Fasıl”-Projekt kam Marc Sinan, als er einige Passacaglien von Biber, Couperin, Bach und Silvius Leopold Weiss spielte und “eine Brücke zu islamischer Musik schlagen” wollte. “Auslöser”, so Sinan in den Linernotes zu diesem Album, “waren musikalische Assoziationen, das Gefühl, daß wir in der historischen Aufführungspraxis im Grunde Haltung und Ausdruck improvisierender Musiker imitieren, daß diese Ästhetik Musiker über kulturelle Grenzen und Zeiten hinaus miteinander verbindet.”
Anstatt auf bereits vorhandene morgen- und abendländische Musik zurückzugreifen und diese zu verschränken oder einander gegenüberzustellen, beschlossen Marc Sinan und sein Librettist Marc Schiffer etwas Neues zu kreieren, indem sie in Worten und Musik die Geschichte von Aisha bint Abi Bakr (613–678) erzählten, der letzten Frau des Propheten Mohammed. “Fasıl” ist die musikalische Charakterstudie einer beeindruckenden Frau und handelt davon, wie sich Aisha “von der unschuldigen Schönheit zur engsten Vertrauten des Propheten, zur politischen Führerin, Feldherrin und schließlich weisen ‘Mutter der Gläubigen', als die sie von den Sunniten verehrt wird,” entwickelte.
Marc Schiffer schrieb dafür Liedtexte, in die er Zitatfragmente aus dem Koran und dem Hadith sowie alte persische Dichtungen einwirkte, die auf den humanistischen Kern hinweisen, der Islam und Christentum miteinander verbindet.
Schiffers Liedtexte wurden dann zur Vertonung der deutschen Pianistin und Komponistin Julia Hülsmann übergeben. Dabei wurden Hülsmann ganz bewußt keine weiteren Hintergrundinformationen zur Geschichte und ihren Protagonisten mitgeliefert. Die Komponistin sollte sich rein emotional und intuitiv mit den Texten auseinandersetzen. Um die Bandbreite des Projekts noch zu vergrößern, reiste Sinan in die Türkei. “Dort machte ich die Bekanntschaft eines sehr offenen und hilfsbereiten Imam namens Kamil Hodja. Er willigte ein, für mich zahlreiche Koransuren, für deren Texte ich mich interessierte, nach der Makam-Tradition zu improvisieren.” Sinan nahm Hidjas Improvisationen auf, ihre Transkriptionen dienten dann als Grundlage für die neue Musik von “Sura 6/51” und “Sura 81 Taksimi”.
Das “Rückgrat, Herz und Gewissen des Ensembles”, das Marc Sinan zusammenstellte, um diese Musik zu spielen, besteht im Kern aus dem bestens eingespielten und sehr erfahrenen Trio der Pianistin Julia Hülsmann. Hülsmann und Bassist Marc Muellbauer arbeiten schon seit 1996 zusammen, während Schlagzeuger Heinrich Köbberling 2001 zu Julias Trio stieß. Das ECM-Debütalbum des Trios, “End Of A Summer”, wurde letztes Jahr von Kritik und Publikum mit überwältigender Begeisterung begrüßt. Die Hauptprotagonisten des “Fasıl”-Projekts sind freilich die stark kontrastierenden Charaktere von Sängerin Yelena Kuljić, Bratschistin Lena Thies und Sinan selbst.
Yelena Kuljić gibt als Aisha eine bezwingend idiosynkratische Performance. Solche Charakterrollen sind eine der Spezialitäten dieser Sängerin. Seit 2003 lebt die gebürtige Serbin in Berlin, wo sie in Musiktheaterproduktionen am Maxim-Gorki-Theater, der Schaubühne und in den Sophiensälen triumphierte. Momentan erntet sie für eine der Hauptrollen in David Martons “Lulu”-Neuinszenierung (einer Adapation, die sehr frei auf den Vorlagen von Alban Berg und Frank Wedekind basiert) am Schauspielhaus von Hannover viel Aufmerksamkeit und glänzende Kritiken in der deutschen Tagespresse. Im Januar 2009 nannte sie die Frankfurter Rundschau “die aufregendste Jazzstimme der zeitgenössischen Szene”.
Die Bratschistin Lena Thies ist unter anderem schon mit dem Orchester der Komischen Oper Berlin aufgetreten. Sie gehört – wie Sinan – einer wachsenden Schar von “klassischen” Musikern an, die der Faszination der Improvisation erlegen sind. Marc preist in seinen Linernotes ihre “überbordende Neugier”.
Der 1976 geborene Marc Sinan ist seit mehr als fünfzehn Jahren auf internationalen Konzertbühnen zuhause. Er studiert ab 1990 unter anderem bei Eliot Fisk und Joaquin Clerch am Mozarteum in Salzburg und am New England Conservatory in Boston. Neben Solokonzerten und Kammermusik-Projekten mit renommierten Partnern wie Eliot Fisk, Jörg Widmann, dem türkischen Perkussionisten Burhan Öçal und dem Rodin-Quartett spielte Marc Sinan als Solist mit namhaften Orchestern wie dem Royal Philharmonic Orchestra oder dem Georgischen Kammerorchester. Konzertreisen führten ihn durch ganz Europa sowie Nord- und Südamerika.
Marc Sinan stand im Mittelpunkt zahlreicher Rundfunk- und TV-Aufzeichnungen, unter anderem für den BR, den ORF und den türkischen Sender TRT und veröffentlichte zahlreiche CD-Produktionen. Sein Debütalbum “A Royal Christmas – Marc Sinan And The Royal Philharmonic Orchestra” erschien 1994 bei Polydor. 1998 widmete ihm der Komponist Jörg Widmann das Auftragswerk “Ent-Schwebung für Gitarre und Elektronik”, das Marc Sinan neben Werken von Robert Beaser und Toru Takemitsu auch für eine CD-Produktion einspielte.
Über die Aufnahmen von “Fasıl” schrieb Marc Sinan im Booklet-Text: “Wir kamen mit unserem ungeordneten Material im März 2008 ins Studio nach Oslo, um mit Manfred Eicher die vorliegende CD aufzunehmen. Manfred hat ‘Fasıl' die freie, elliptische und doch unumstößliche Form gegeben. Wenn ich Außenstehenden die Arbeit im Studio veranschaulichen soll, habe ich folgendes Bild vor Augen: Es gibt diese Art Vögel, die ihre Jungtiere aus Felswänden in großer Höhe stoßen. Während die Jungen im freien Fall das Fliegen lernen, nutzen sie, mit scharfem Auge beobachtend, die Thermik und ziehen bewegungslos Kreise. Ich kann nur für mich sprechen: Fliegen ist ein sehr gutes Gefühl.”
Anläßlich der CD-Veröffentlichung wird Marc Sinan am 28. Februar mit allen Musikern, die an der Aufnahme von “Fasıl” beteiligt waren, im Radialsystem V in Berlin auftreten. Am 4. April wird das “Fasıl”-Ensemble sein Projekt beim JazzArtFestival in Schwäbisch Hall präsentieren.