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Mark Murphy – Love Is What Stays

31.01.2007
74 Lebensjahre und fünfzig Jahre Musikkarriere sind eine lange Zeit, sie haben ihre Spuren in Mark Murphys Gesicht hinterlassen, das einen vom Cover seines neuen Albums anblickt. Triumphe und Abstürze, Höhen und Tiefen, Beobachtungen und Erkenntnisse legt er in seine noch immer unverkennbare, beeindruckend vitale Stimme. Unverfälschte Emotionen mischten sich in Mark Murphys Gesang schon immer mit elegantem Jazz-Crooning der Sinatra-Schule, auf seinem neuen Album treibt er beide Ausdrucksformen zu neuen Höhen und setzt seinem Lebenswerk eine musikalische Krone auf.
Vor zwei Jahren erschien mit “Once To Every Heart” die erste Zusammenarbeit des Amerikaners mit dem Deutschen Till Brönner. “Fabelhaft” schrieb Stereo, “ergreifend” die Frankfurter Allgemeine. Die Financial Times schwärmte von Murphys “Erfahrung, Reife und Coolness” und Rondo brachte es auf den Punkt: “Dieser Mann ist einfach unvergleichlich.”

Wie kein anderer Sänger balancierte Murphy stets zwischen den Welten. In den 50er Jahren wurde er von Sammy Davis Jr. entdeckt, in den 60er Jahren bejubelte ihn seine Capitol-Records-Labelkollegin Peggy Lee. Er sang mit Ella Fitzgerald und war musikalisches Darling des amerikanischen Jet-Set. Ende der 60er knickte die Karriere ein, Murphy zog nach Europa, arbeitete als Schauspieler und entdeckte die Folk- und Rockmusik. In den 70er Jahren, zurück in den USA, kam er als anspruchsvoller Jazzsänger zu Ehren, in den 80er Jahren entdeckte ihn die Acid-Jazz-Szene um Gilles Peterson und machte ihn zu einem ihrer Stars. Trotz zahlloser Grammy-Nominierungen und mehr als vierzig veröffentlichten Alben ist Mark Murphy doch stets der “bekannteste Unbekannte” seines Faches geblieben, von Journalisten und Kollegen als Genie gepriesen, vom größten Teil der Öffentlichkeit aber ungerechtfertigt und unverständlicherweise übersehen.

“Love Is What Stays”, sein zweites von Till Brönner produziertes Album, könnte Mark Murphy jetzt verdientermaßen seinem bisher größten Publikum vermitteln, so packend und mitteilsam ist es geworden. Murphy pendelt hier zwischen ebenso herzzerreißend schönen wie rauen Balladen, überrascht mit Versionen von Johnny-Cash- und Coldplay-Songs, groovt seinen 70er-Jahre-Klassiker “Stolen Moments” und erzählt von einem Leben zwischen den Kontinenten und musikalischen Genres. Till Brönner, prominente musikalische Gaststars wie Lee Konitz und Don Grusin, und cinematografisch stimmungsvolle Arrangements, gespielt vom Deutschen Symphonie Orchester Berlin, bieten ihm dafür die Leinwand.

Zeit ist für Mark Murphy mehr denn je ein Thema, wie das neue Album eindrucksvoll belegt. “In meinem Alter wirst du geradezu davon besessen, wie die Zeit deine Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart beeinflußt. Sie saust an dir vorbei, und du kannst nichts dagegen tun.” Dabei hat es die Zeit sehr gut gemeint mit seiner Stimme, einem vollen, lebendigen Bariton, geschliffen von den Erfahrungen einer fünfzigjährigen Reise durch das Musikbusiness. Eine Stimme, die aus einer schummrigen Ecke in irgendeinem verrauchten Robert-Mitchum-Film dringen könnte. “Hören Sie Mark Murphy einfach zu, Sie können sicher sein, daß Ihre Reaktion nicht lauwarm ausfällt”, versprachen die Linernotes seiner ersten LP, aufgenommen für Decca Records im Jahre 1956. “Murphy”, fügte der Schreiber hinzu, “ist einer der ganz großen Sänger unserer Zeit.”

All das könnte ganz genauso auch heute noch geschrieben werden. Der Beweis ist “Love Is What Stays”, aufgenommen fünfzig Jahre nach seinem Decca-Debüt. Das Album dürfte ohne Zweifel das ehrlichste Portrait des eigenwilligen und künstlerisch furchtlosen Sängers sein. In einem Alter, in dem seine Kollegen entweder die Rente eingereicht oder sich milder Nostalgie hingegeben haben, ist Murphy immer noch genauso getrieben wie in den 50er Jahren, als seine Reise begann. 2006 verschlug es ihn erneut nach Berlin, wo er die neue CD aufnahm. Auf ihr stürzt er sich kopfüber in Songs von Johnny Cash, Oliver Nelson, Alan Jay Lerner und Coldplay, rezitiert ein Beispiel seiner “Free-Form Poetry”, entspinnt einige neue seiner traumartigen Songtexte, und scattet so frei und inspiriert wie John Coltrane einst Saxophon spielte.

Murphy ist wieder vom selben kreativen Team umgeben, das ihm schon beim vorangegangenen Album “Once To Every Heart” zur Seite stand, seinem größten Erfolg seit vielen Jahren. Das Projekt brachte ihn zum ersten Mal mit Till Brönner zusammen, der nicht nur als Trompeter und Sänger künstlerisch und kommerziell zur Spitze des deutschen Jazz zählt, sondern auch als Produzent mit Projekten wie diesem immer wieder von sich hören macht. Er versammelte eine Gruppe junger Musiker um den amerikanischen Sänger, deren Energie, so Murphy, “meine Akkus immer wieder auflädt”.

So wie “Once To Every Heart” beinhaltet auch das neue Album hypnotische Orchesterarrangements von Nan Schwartz, der Emmy- und Grammy-nominierten Arrangeurin aus Kalifornien. Schwartz arrangierte für Ray Charles, die Boston Pops und Eddie Daniels, und schrieb Musik für einige der erfolgreichsten US- TV-Serien, unter anderem für “In The Heat Of The Night” und “Cagney & Lacey”. Schwartz ist eine Meisterin des “weniger ist mehr” und eine faszinierende Geschichtenerzählerin.

Es war Tills Idee “Stolen Moments”, Marks Erkennungssong seit den 70er Jahren, als wiederkehrendes Thema des Albums aufzunehmen. Mark schrieb den Text zu dem klassischen Jazzinstrumental von Oliver Nelson aus dem Jahre 1961. Till: “Der Song ist dazu geschaffen, dem Hörer zu vergegenwärtigen, daß Mark aus einer gigantischen Ära stammt, die er, neben anderen, geprägt hat, und daß er uns eines Tages etwas Bleibendes hinterlassen wird.”

Mark nahm schon einmal eine Balladenversion von “Angel Eyes” auf, enthalten auf seinem Riverside-Album “Rah!”, seinem gepriesenen Werk von 1961, dessen All-Star-Band von niemand Geringerem als Bill Evans angeführt wurde. “Alle haben den Song damals gesungen, er war verdammt hip”, meint Mark, “und ist es noch immer. Einer der Gründe dafür ist, daß du ihn immer wieder auf so viele verschiedene Arten singen kannst.” Diese coole, ernüchterte Version beginnt mit einer Strophe, die 1975 für die Sängerin June Christy geschrieben wurde. Till und seine Bandmitglieder – vor allen Dingen Pianist Frank Chastenier und Gitarrist Johan Leijonhufvud – spielen entsprechend funky. Spannung schwingt in Marks Stimme bei seiner Interpretation von “My Foolish Heart” aus dem Jahr 1949 mit. Im selben Jahr machten Altsaxophonist Lee Konitz und Miles Davis die Aufnahmen, die später als “Birth Of The Cool” berühmt werden sollten. 57 Jahre später ist niemand Geringeres als eben dieser Lee Konitz hier bei “My Foolish Heart” zu hören, so cool und swingend wie eh und je.

Einer der Songs, die Till für Mark ausgewählt hat, ist “What If”, eine 2005 erschienene Single der weltweit erfolgreichen britischen Alternative-Rock-Gruppe Coldplay. “Immer dasselbe alte Broadway-Repertoire durchzustöbern, nur weil Jazzer das angeblich nun mal so machen, schien mir hier nicht der richtige Ansatz”, erklärt Till. “Ich war immer der Meinung, daß Mark in jedem musikalischen Genre bestehen kann. Ich mag Coldplay sehr, und mir gefällt die Idee, daß ‘richtige’ Musik heutzutage noch so erfolgreich sein kann. Ich wußte, daß dieser Song für Mark ein Killer sein würde, und er hat mir vertraut. In seinem Alter!” Mark erinnert sich: “Als ich das Coldplay-Album das erste Mal gehört habe, schoss mir durch den Kopf: Wie soll ich das singen? Aber Till ließ nicht locker, und mit Nan Schwartz' absolut fantastischem Arrangement hinter mir werde ich den Song jedesmal genießen, wenn ich ihn singe!”

“The Interview”, der persönlichste Track des Albums, besteht jeweils zur Hälfte aus gesprochenem Wort und improvisiertem Scat-Gesang. “Eines Morgens wachte ich auf und hatte die Hälfte dieses Gedichts im Kopf, ich schrieb es schnell auf.” In einer der Aufnahmesessions zog Mark ohne Vorankündigung den Zettel aus der Tasche. “Er machte keine großen Anstalten zu erklären, was er vorhatte”, erinnert sich Till, “er meinte bloß ‘Hört mal zu!’ und bat uns, mit einem musikalischen Groove einzusteigen.”

“So Doggone Lonesome” aus dem Jahr 1955 war einer von Johnny Cashs ersten großen Hits. “In seiner Version ist es ein verdammt schneller Track”, sagt Till, “es klingt fast, als ob Johnny nicht zuviel von seinen Gefühlen zeigen wollte, als ob er ein schnelles Tempo gewählt hätte, um eine ziemlich traurige Geschichte zu kaschieren.” Mark entschied sich, den Song einfach “wie einen Blues aufzufassen, was er ja letztendlich auch ist”.

Der Titeltrack des Albums, “Love Is What Stays”, basiert auf Tills Instrumentalnummer “What Stays” von seinem Album “Love” (1998). “Für mich ist das eine der sinnlichsten Melodien aller Zeiten”, meint Mark, der die passenden Lyrics dazu selber geschrieben hat. “Blue Cell Phone” ist eine weitere Kollaboration der beiden. Film-Noir-Krimis, eine von Marks Leidenschaften, waren die Inspiration für den mysteriösen Songtext.

Der Film “Brokeback Mountain” hat Mark fasziniert, er hat ihn wieder und wieder angesehen. Seine Stimmung hat seine Version von “Too Late Now” inspiriert, einem alten Standard, der das Glück beschreibt, die Liebe zu finden, auf die man sein Leben lang gewartet hat, den Moment, von dem aus es kein Zurück mehr gibt. Mark spinnt dieses Gefühl weiter, bis zu dem Punkt, an dem diese Liebe für immer verschwindet. “Did I Ever Really Live?” haben schon Joe Williams und Carmen McRae gesungen, beide reif genug, sich die harte Frage zu stellen, die der Songtext formuliert. “Das ist kein einfacher Song”, sagt Mark, aber er hat sich ihm gestellt, so mutig wie immer.

Was ist das Wichtigste, das die Hörer von Mark Murphys neuem Album mitnehmen sollen? “Vor allen Dingen, daß ich hier mein Leben ausbreite”, sagt er. “Ich mache keine Show, die Worte und die Melodien, die ich singe, stehen für mein Leben, und das teile ich meinem Publikum hier mit. Aber sollte es nicht eigentlich immer so sein? Nur so ist es ehrlich.”