Mit ihrem Sololbum “12 Stars”, auf dem Melissa Aldana buchstäblich nach den Sternen greift, ist der jungen chilenischen Tenorsaxophonistin und Komponistin 2022 ein wirklich traumhafter Einstand bei Blue Note gelungen. “Man hört vom ersten Takt an, mit welcher Virtuosität sie jede noch so komplexe Idee spielen kann”, schwärmte Andrian Kreye in der Süddeutschen Zeitung über Aldana. “Da erinnert sie an Zeitgenossen wie Chris Potter oder Immanuel Wilkins, die ihre extreme Handwerklichkeit für immer neue Ausdrucksformen nutzen. Mit ihrem Ton stellt sie sich allerdings deutlich gegen die Strömung vieler Bläser, sich im Klangbild ihrer jeweiligen Ensembles einzureihen, wie Wilkins zum Beispiel. Aldana lässt ihrer halbakustischen Rhythmusgruppe viel Freiraum, aber wann immer sie ihren luftigen Ton ansetzt, fokussiert sich das Klangbild in seiner ganzen Klarheit auf sie.” Kein Wunder also, dass Melissa Aldana für ihre atemberaubende Darbietung in dem Stück “Falling” (das auf “12 Stars” zu hören ist) bereits zum zweiten Mal als einzige Frau in der Kategorie “Best Improvised Jazz Solo” für einen Grammy nominiert wurde.
Das Saxophonspielen wurde Melissa gewissermaßen gleich in die Wiege gelegt, als sie am 3. Dezember 1988 in Santiago de Chile zur Welt kam. Ihr Großvater Enrique “Kiko” Aldana war in den 1950er und 60er Jahren Mitglied des in Chile ungemein populären Orquesta Huambaly, das 1959 bei einer fulminanten Europa-Tournee mit Größen wie Édith Piaf, Gilbert Bécaud und Charles Aznavour auftrat. In seine Fußstapfen schlüpfte eine Generation später Melissas Vater Marcos Aldana, der in Chile zu einem der führenden Vertreter des modernen Jazz und Jazz-Rock aufstieg.
Melissa selbst begann im zarten Alter von sechs Jahren Altsaxophon zu lernen und sorgte schon als Neunjährige mit einem eigenen Quartett für Furore. Zu ihren Vorbildern gehörten damals Phil Woods, Michael Brecker und Bob Mintzer. Nach Auftritten mit internationalen Größen wie dem panamischen Pianisten Danilo Pérez und dem US-Trompeter Randy Brecker beschloss sie mit 18 Jahren, dass es nun an der Zeit war, das heimische Nest zu verlassen und flügge zu werden. Die Chance dazu bot ihr ein Stipendium für das Berklee College in Boston, wo sie 2009 ihr Studium abschloss.
Anschließend zog es sie nach New York, wo sie schon bald für das Label von Greg Osby ihr Debütalbum “Free Fall” einspielen konnte, dem 2012 mit “Second Cycle” der zweite Streich folgte. Der große Durchbruch gelang ihr dann 2013, als sie den Thelonious Monk International Jazz Saxophone Competition gewann. Melissa schrieb damals gleich in doppelter Hinsicht Geschichte: zum einen war sie die erste Frau, die sich in dieser Instrumentenkategorie behaupten konnte, zum anderen auch die erste Preisträgerin aus Südamerika bei diesem Wettbewerb überhaupt. Ihr Vater hatte es 1991 “nur” ins Semi-Finale geschafft.
Der Gewinn brachte Melissa neben einem Preisgeld in Höhe von $25.000 einen Plattenvertrag mit Concord Jazz ein. Dort veröffentlichte sie 2014 ihr drittes Album “Melissa Aldana & Crash Trio”. 2016 feierte das Magazin DownBeat sie in einem Artikel als eine der 25 Jazzkünstler/innen, die in den kommenden Jahrzehnten die Richtung des Jazz prägen werden. Ihre erste Grammy-Nominierung in der Sparte “Best Improvised Jazz Solo” erhielt sie 2020 für “Elsewhere” von dem Album “Visions”. Im selben Jahr erschien bei Blue Note auch das erste Album des weiblichen All-Star-Ensembles Artemis, dem Melissa seit seiner Gründung im Jahr 2017 angehörte. Blue-Note-Boss Don Was war von Melissa so begeistert, dass er sie vom Fleck weg auch als Solokünstlerin bei dem Label unter Vertrag nahm und ihr die Aufnahme von “12 Stars” ermöglichte.