Nels Cline | News | Ein Musiker, der alle Schubladen sprengt

Ein Musiker, der alle Schubladen sprengt

Wenn es noch eines Beweises für Nels Clines unglaubliche Vielseitigkeit als Gitarrist und Komponist bedurft hätte, dann liefert er ihn eindrucksvoll auf seinem vierten Blue-Note-Album.
Nels Cline
Nels ClineNathan West
14.03.2025
Nels Cline stilistisch in eine Schublade stecken zu wollen, gleicht dem Versuch, einen Pudding an die Wand zu nageln. International bekannt wurde der Gitarrist vor rund 45 Jahren zwar mit Aufnahmen an der Seite von Jazz-Avantgardisten wie Tim Berne und Vinny Golia, doch schon bald machte er deutlich, dass er sich nicht nur in dieser Nische aufhalten, sondern seine Fühler in alle erdenklichen musikalischen Richtungen ausstrecken wollte. Heute gilt Cline, der seit 2004 Lead-Gitarrist der Indie-Rockband Wilco ist, als einer der stilistisch vielseitigsten Gitarristen.
Davon zeugen auch seine seit 2016 bei Blue Note erschienenen Soloalben, die jeweils eine andere der vielen musikalischen Facetten von Nels Cline beleuchten. Mal präsentierte er sich als aufgeklärter postmoderner Romantiker mit Bläser- und Streicherverstärkung und experimenteller Mood Music (Album “Lovers”, 2016), dann navigierte er mit dem Quartett The Nels Cline 4 und Julian Lage als Gitarrenpartner durch ein abenteuerliches Terrain zwischen zeitgenössischem Jazz und improvisierter Musik (Album “Currents, Constellations”, 2018) oder zelebrierte mit seinem sängerlosen Indie-Rock-Trio The Nels Cline Singers und Gästen lustvoll die hohe Kunst des Gitarren- und Stilgrenzen-Schredderns (Album “Share The Wealth”, 2020). 
Auf “Consentrik Quartet” stellt Nels Cline nun sein jüngstes, gleichnamiges Quartett mit der aus Deutschland stammenden, aber schon seit langem in New York lebenden Saxofonistin Ingrid Laubrock, dem Bassisten Chris Lightcap und dem Schlagzeuger Tom Rainey vor. Das Album ist eine Art Liebeserklärung an die vielfältige Improvisationsszene Brooklyns, in der der aus Los Angeles stammende Gitarrist seit über zehn Jahren eine wichtige Rolle spielt. “'Consentrik' begann damit, dass ich versuchte, alles zu entschlacken und so wenig wie möglich Effekte zu verwenden”, sagt Cline. “Ich hatte zunächst eine etwas traditionellere Klangpalette im Sinn, zumindest für mich selbst.” Doch seine Fantasie ist einfach zu fruchtbar, um sich von künstlerischen Parametern einschränken zu lassen. “Nach einer Weile ertappte ich mich dabei, wie ich doch wieder mein Pedalboard benutzte, Loops machte und funkigere, groovigere Melodien schrieb. Und ich merkte, dass der Klang der verzerrten Gitarre perfekt zu Ingrids Tenorsax passte.”
Im Vergleich zu den Nels Cline Singers, die von einem anderen musikalischen Planeten zu stammen scheinen, ist das Consentrik Quartet ein fast schon klassisches Jazzensemble, das gelegentlich – wenn auch nur entfernt – an das John Scofield Quartet mit Joe Lovano von “Time On My Hands”, Paul Motians Trio mit Bill Frisell und wiederum Lovano oder das Jimmy Giuffre 3 erinnert. Tatsächlich spiegelt die Musik, die Cline für das Consentrik Quartet schrieb, eine Vielzahl von unterschiedlichsten Einflüssen wieder. “Allende” klingt wie eine der lateinamerikanischen Ballade aus dem Repertoire von Charlie Hadens Liberation Music Orchestra. Das anfangs punk-jazzige “Satomi” ist der Bassistin und Sängerin Satomi Matsuzaki von der experimentellen Indie-Rock-Band Deerhof gewidmet und mit geradezu irrwitzigen Soloeinlagen von Cline und Laubrock gespickt. “The 23” lebt hingegen von seinem unwiderstehlich hypnotisierendem Bassgroove, während Nels Cline im  frei swingenden “Surplus” klar konturierte Post-Bop-Linien mit rauen Electric-Blues-Phrasen punktiert.
Über seine Mitstreiter im Consentrik Quartet ist der Gitarrist voll des Lobes. Tom Rainey bezeichnet er als “einen der besten Schlagzeuger der Welt”. Mal wirkt er wie ein impressionistischer Klangmaler an Trommeln und Becken, dann improvisiert frei, swingt auf Teufel komm heraus oder groovt und rockt hart. Chris Lightcap besticht als Bassist, der die Musik nicht nur verlässlich grundiert und die Fäden im Hintergrund zusammenhält, sondern ist auch ein inspirierter Melodiker und Geschichtenerzähler im Stile von Scott LaFaro und Charlie Haden. Und dann ist da schließlich noch Ingrid Laubrock. Die Saxofonistin und Nels Cline spornen sich auf “Consentrik Quartet” immer wieder gegenseitig zu neuen Höchstleistungen an. “Wenn ich mir anhöre, was sie auf dieser Platte spielt, bin ich durchweg begeistert. Für mich klingt es, als wäre es eigentlich ihr Album, so sehr glänzt sie hier.”