Diese Woche erschien das Debutalbum von Nylon im Handel. In seinen elektronischen Versionen lässt das Berliner Quintett das deutsche Chanson im 21. Jahrhundert ankommen, und die Presse jubelte. Nylon zierte das Cover des letzten KulturSpiegel und schwebte auf verschiedenen Radioterminen durch den Berliner Äther. Die melancholischen Bearbeitungen deutscher Chanson-Klassiker von Nylon sind bereits als Soundtrack des wettergetrübten Sommers 2004 ausgerufen worden.
Der Berliner Oranienplatz an einem Sommernachmittag: Mit quietschenden Bremsen verlangsamt der Doppeldeckerbus der Linie 129 seine Fahrt vor der Haltestelle, man versteht sein eigenes Wort nicht mehr. Autos, Fahrräder und Fußgänger schieben sich auf unsichtbaren Gleisen voran, ohne in dem Gewusel zusammenzustoßen. Auf dem Gehweg defilieren junge Menschen die neueste Streetwear- und Kopftuchmode. Gegenüber im Bateau Ivre rührt Birol Ünel, der Hauptdarsteller aus “Gegen Die Wand” in seiner Kaffeetasse. Durch den Lautsprecher des vietnamesischen Fastfood-Ladens werden Nummern ausgerufen, während mir Paul Kleber erklärt, warum Nylon das Gegenteil von einer Coverband ist: “Eine Coverband spielt Stücke Eins zu Eins nach, um auf Parties die Leute zum Tanzen zu bringen. Wir dagegen haben unsere eigenen Versionen gemacht, die einen völlig neuen musikalischen Gestus haben.”
Gerade ist das Debut des Quintetts erschienen: Den Titelsong “Die Liebe Kommt” sangen die Comedian Harmonists im Berlin der Zwanziger Jahre. Auch Marlene Dietrich, Manfred Krug, Barbara Thalheim oder Ideal bestimmten zu ihrer Zeit den Klang der Hauptstadt. Nylon sind zum größten Teil selbst auch Berliner (mit Biografie West). Vielleicht ist es nur ein Zufall, dass es auch die Originalinterpreten der meisten Songs auf ihrem Album waren, vielleicht aber auch nicht. Nylon hat viel von Berlin, seiner Art, etwas Neues zu machen, ohne nach links und rechts zu schielen, ohne paralysierenden Perfektionismus. Die Band verkörpert einen bestimmten Berliner Humor, eine Zärtlichkeit hinter der rauen, unsentimentalen Berliner Schnauze. Und vor allem kommt ihre musikalische Identität aus dem Berliner Clubunderground der 90er und Jazzanovas Sonarkollektiv. Die Musiker Niku Sebastian, Hagen Demmin, Stefan Rogall, Arnold Kasar und Paul Kleber spielten und spielen bei Micatone, dem Lisa Bassenge Trio oder Atomhockey. Und deren elektronische nu-groovige Einflüsse hört man durchaus heraus, wenn sie eine Ost-West Achse zwischen berühmten deutschen Singer-Songwritern wie Manfred Krug und Hildegard Knef legen. Der KulturSpiegel verglich Nylons Bearbeitungen des “German Songbook” mit der Renaissance des Chanson, die in Frankreich mit Künstlern wie Benjamin Biolay stattfindet. So wie Biolay “das alte abgestandene Odeur, das die Vorstellungen von französischen Chansons wie ein Mundgeruch umwehte, …mit modernen Rhythmen und einer gepflegten Lounge-Atmosphäre” wegpustete, haben Nylon die Mottenkugeln aus dem deutschen Chanson geholt.
Die erste Single aus dem Album wird ihre, sagen wir Lovers Rock-Adaption von “Liebesleid” der Comedian Harmonists sein. “Ich habe diesen Song schon als Kind geliebt, wir haben dazu als Kinder immer getanzt”, erzählt Sängerin Niku. “Deshalb bin ich irre froh, dass es geklappt hat, den neu aufzunehmen.” "Den Titel “Frühling in der Schönhauser” wollte ich unbedingt machen, weil ich da jeden Tag lang gehe", wirft Stefan ein. “Im 80. Stockwerk” ist so ein ewig altes Lieblingsstück, das ich als DJ öfter mal gegen Feierabend gespielt habe", erzählt er weiter, "oder “Feuerzeug”, weil ich ein alter Ideal-Fan bin. Die Songs sind unsere Geschichte."
Paul war 16, als die Mauer fiel und studierte später im Ostteil der Stadt. “Für uns gibt es diese Aufteilung von Osten und Westen eigentlich gar nicht mehr”, behauptet er, doch die anderen sind da etwas skeptisch. Dennoch hat die Herkunft Ost oder West der Songs auf ihrem Debutalbum für Nylon keine Rolle gespielt. “Es ging um die Musik und ob die uns gefällt oder nicht”, sagt Niku und schränkt dann ein: "Im Nachhinein haben wir dann doch manchmal überlegt und diskutiert. Bei den Manfred Krug-Songs hat Arnold erzählt, dass die teilweise einen politischen Hintergrund hatten. Von wegen “Schade, dass du nicht da bist”, weil wieder jemand in den Westen geflohen war. Aber wir wollten auf keinen Fall die Geschichte beschwören. Ein guter Song ist auf viele Lebenssituationen anwendbar, und da sind gerade die Manfred Krug-Songs unschlagbar."
Krug, die Comedian Harmonists, die Dietrich, die Knef, Daliah Lavi, sogar Ideal sind für die Jugend von heute Erwachsenenmusik. Die Protagonisten ihrer Songs werden in den Nylon-Versionen jedoch wieder jung: Marlene hat eine Nylon-Trainingsjacke an, wenn sie Johnny zum Nachmittagssex um halb Vier einlädt; Barbara tritt mit Nietenhalsband und zerlöcherter Nylonstrumpfhose vom Mauerpark auf die Schönhauser Allee. “Genau unser Anliegen, wir wollten dieses Material wieder zugänglich machen”, freut sich Niku. “Viele dieser Songs sind auch nicht wirklich berühmt, so dass die gleich jeder mitpfeifen könnte”, ergänzt Stefan. “Es sind eher ins Jetzt transportierte Wiederentdeckungen. Sonst wären es Cover Versionen.”
“Wir ziehen diese Stücke in unsere eigene Welt”, stellt Paul fest. "Dadurch, dass wir schon lange zusammen Musik machen, gab es für uns schon festgelegte stilistische Vorgaben. Es war keineswegs so, dass wir ´zig Möglichkeiten zur Auswahl hatten und irgendwelche Beats unter die Harmonien gedrückt haben. Bei “Schönhauser Allee” etwa wollten wir zunächst so eine akustische, offene Nummer aus der Original-Dixie-Version machen, aber das hätte nicht zu den anderen Stücken gepasst. Und so fingen wir an zu überlegen, was denn eigentlich die Schönhauser Allee heute ausmacht. Obwohl sie im Original als so schön beschrieben wird, ist die Schönhauser Allee heute ja ziemlich versifft und heruntergekommen. Wir konnten kein liebliches Lied daraus machen, wollten etwas Rotziges drin haben. Daraus ist diese Mischung aus House, Geräuschen und dem etwas trostlosen Spieluhrsound gekommen. Im Intro spielt dieser Akkordeonspieler, der immer unter der S-Bahn Brücke sitzt."
Könnte man heute noch Songs wie “Ich möchte mich von mir trennen” schreiben? “Eigentlich braucht man solche Songs immer”, findet Niku. Was machen solche Songs für einen Sinn in heutigen politisch bewegten Zeiten? “Es bringt manchmal viel mehr, Songs über persönliche Probleme zu machen, und wie man damit klarkommt als zum Beispiel ein Lied über den Irakkrieg zu schreiben”, meint Stefan. “Die Texte auf dem Album spiegeln so ziemlich alles wider, was zwischenmenschlich passiert, aber auf einer persönlichen Ebene. Viele sind dabei humoristisch aber auch gnadenlos ehrlich, die Texte von der Knef zum Beispiel.” “Einige Songs haben ganz tröstliche Inhalte”, sagt Niku. "Zum Beispiel “Die Liebe Kommt”. Keine megalomanischen Fantasien von wegen: Ich kann die Welt verändern, sondern der Song beschreibt den Versuch, trotz allem weiter zu machen und glücklich zu sein." Die Comedian Harmonists wussten wahrscheinlich, wovon sie sangen, denn in den Zwanziger Jahren war die Weltsituation noch schlimmer als heute.