Unter dem Begriff Free Jazz verstehen viele Menschen dissonante Klangorgien, die dem Ohr weder rhythmische noch harmonische und schon gar nicht melodische Anhaltspunkte bieten. Dabei zeigt der kanadische Pianist Paul Bley nun schon seit rund 60 Jahren, dass sich freie Improvisationen und lyrisches Spiel keineswegs gegenseitig ausschließen müssen. Der britische Melody Maker nannte ihn deshalb einst den “leisen Genius des Free Jazz”. Auf “Play Blue”, seinem erst dritten, live in Oslo eingespielten Soloalbum für das ECM-Label, fand Bley nun wieder eine wunderbare Balance zwischen abstraktem und poetischem Spiel, die einen von der ersten bis zur letzten Minute fesselt.
“Mr. Bley”, bemerkte die New York Times 2006, “hat vor langer Zeit einen Weg gefunden, seinen langen, eleganten, voluminösen Gedanken in einer Weise Ausdruck zu verleihen, die auf komplette Autonomie schließen lässt, aber dennoch nicht wirklich Free Jazz ist. Seine Musik wird von einer Mixtur aus profundem historischem Wissen und ihren eigenen, unantastbaren Prinzipien angetrieben.” Bevor Bley 1964 zu einer der Schlüsselfiguren der New Yorker Avantgarde-Szene aufstieg, spielte er mit Jazzlegenden wie Charlie Parker, Sonny Rollins, Art Blakey, Louis Armstrong, Charles Mingus und Chet Baker. Schon früh vertrat er den Standpunkt, dass die Avantgarde auch immer die Ästhetiken der Jazztradition reflektieren sollte. Er selbst tut dies in seinem Spiel, das nach eigener Aussage “immer autobiographischer” wird, indem er “Standards gerade noch als ferne Reminiszenzen am Rande wetterleuchten” lässt (so Peter Rüedi in der Weltwoche) und zugleich neues Klangterrain erkundet. Auf “Play Blue” schöpft Bley nun in vier eigenen Kompositionen und einer Interpretetation von Sonny Rollins’ “Pent-Up House” aus seinem enormen historischen Fundus.