“Wenn Musik ein Gespräch ist, dann werden Fragen aufkommen, denn in Gesprächen gibt es viele Fragen. Fragen führen zu Antworten, die wiederum zu mehr Fragen führen. Das ist es, was die Musik vorantreibt: die Fragen und die Antworten auf sie.” (Paul Bley)
“When Will The Blues Leave” ist eine bisher unveröffentlichte Aufnahme, die zwanzig Jahre lang in den Archiven von ECM Records schlummerte. Die Musik dieses Albums zeugt von dem besonderen Verständnis zwischen drei große Improvisatoren. Unter kreativen Musikern gilt das bahnbrechende Trio von Paul Bley mit Gary Peacock und Paul Motian seit langem als eine der einflussreichsten Gruppen der “Free”-Ära. Und dass, obwohl es nur wenige Aufnahmen von ihm gibt. Eine 1963 gemachte Session des Trios war Teil des Albums “Paul Bley With Gary Peacock”, das ECM 1970 veröffentlichte. Eine weitere Aufnahme von 1964, auf der zu dem Trio noch der Saxophonist John Gilmore stieß, erschien Mitte der 70er Jahre unter dem Titel “Turning Point” auf Bleys eigenem Label IAI Records. Darüber hinaus erschien über die Jahre hinweg noch eine Reihe von Aufnahmen, die den Pianisten entweder mit Motian oder mit Peacock präsentierten. Und dann gibt es auch Alben, auf denen der Schlagzeuger und der Bassist in anderen Kontexten zusammenspielen. Dennoch dauerte es bis 1998, bis sich alle drei Protagonisten für die ECM-Aufnahme “Not Two, Not One” endlich wieder zusammen in einem Aufnahmestudio einfanden. Nach der Veröffentlichung des Albums ging das wiederveinte Trio mit dem Programm dies- und jenseits des Atlantiks auf Tournee. Im Rahmen dieser Tournee wurde im März 1999 in der Aula Magna di Trevano im schweizerischen Lugano das Konzert aufgezeichnet, das auf “When Will The Blues Leave” nun endlich die Öffentlichkeit erblickt. Das Trio lief an diesem Abend zu Hochform auf. Das Album selbst ist nicht nur Dokument eines fantastischen Auftritts, sondern eine der besten Trio-Einspielungen von Paul Bley überhaupt.
Zum Auftakt spielte das Trio die Bley-Komposition “Mazatlan”, die der Pianist erstmals 1965 auf seinem Album “Touching” vorgestellt hatte. Mit ihr wird der Hörer in die schlagfertige Welt des Trios eingeführt, in der drei unabhängige Geister die Palette ihrer Ausdrucksmittel voll auskosten. “Das Schöne daran, einen Schlagzeuger wie Paul Motian zu haben, war, dass man die Freiheit hatte, jedwede Richtung einzuschlagen”, hatte Bley bekanntlich einmal gesagt. “Er spielte keine Begleitung. Also musste man sich nicht sorgen: ‘Wird der Schlagzeuger mir folgen können, wenn ich nach links abbiege?’ Denn Motian hatte von vornherein nicht die Absicht, einem zu folgen.” Sowohl Motian als auch Peacock nehmen in “Mazatlan” viel Raum in Anspruch, und Bley erkundet auf charakteristische Weise mit explosiven Clustern die tieferen Register des Klaviers. Die Flamme in “Flame” brennt konstant, wobei Bley und Peacock das entwickeln, was man als parallele Selbstgespräche bezeichnen könnte. “Told You So” erinnert an Bleys Liebe zum Blues, die auch bei der Fragmentierung seiner Themen konstant durchscheint.
Ornette Colemans energiegeladenes “When Will The Blues Leave”, das hier in einem flotten Tempo gespielt wird, ist ein Stück, das Bley 1958 in sein Repertoire aufnahm, als der Komponist (zusammen mit Don Cherry, Charlie Haden und Billy Higgins) Mitglied von Pauls legendärem Quintett im Hillcrest Club in Los Angeles war. Man kann es auch auf dem zeitlosen “Footloose”-Album und auf “Paul Bley With Gary Peacock” hören. Das letztgenannte Album enthält auch Peacocks Komposition “Moor”, zu der der Bassist mehrfach zurückgekehrt ist und die er stets auf andere Weise spielte (bei ECM gibt es u.a. auf “Voice From The Past – Paradigm” eine Quartett-Version mit Jan Garbarek, Tomasz Stanko und Jack DeJohnette sowie auf “Now This” eine aktuelle Trio-Interpretation mit Marc Copland und Joey Baron). Hier beginnt “Moor” als robustes Basssolo, das Motians Schlagzeug und Bleys Klavier allmählich in seine Umlaufbahn zieht.
Diese Musiker neigten nie dazu, etwas zweimal auf die gleiche Weise zu spielen. Ein wunderbares Beispiel dafür ist das Stück “Dialogue Amour”, dass sie ein Jahr zuvor auf “Not Two, Not One” vorgestellt hatten. Bei ihrem Auftritt in Lugano verwandeln sie es vollkommen, indem Peacock und Bley frei assoziieren, während sich das Stück entfaltet. An einem Punkt wirft Paul Zitate aus Charlie Parkers “Ornithology” ein (der Altsaxophonist war einer der vielen Giganten, mit denen Bley im Laufe seiner Karriere gespielt hat).
Bei seinen ersten Kollaborationen Anfang der 1960er Jahre hatte das Trio den Schwerpunkt daraufgelegt, eigene Kompositionen als Tor zum freien Spiel zu nutzen. In den 1990er Jahren aber hatten sich alle drei Musiker bei verschiedenen Projekten auch wieder mit Jazzstandards auseinandergesetzt. Die letzte Nummer des Albums, Gershwins “I Loves You, Porgy”, ist eine weitere faszinierende Performance, bei der sich Bley zunächst der romantischen Atmosphäre des Stücks hingab, um dann – wie stets von dem Wunsch getrieben, die Musik zu erneuern – die Melodie zu zersplittern und zu abstrahieren.