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Biografie

Paul Simon
Paul Simon
 
“Oh! You don’t know me?
O.K. I don’t know you, too”
(“The Werewolf”)
Man muss schon ein halbes Jahrhundert Popgeschichte verschlafen haben, um Paul Simon nicht zu kennen. Zwar hat er, seit er 1965 mit “The Paul Simon Songbook” sein Solodebüt gab, nur zwölf Solo-Alben aufgenommen. Aber die entpuppten sich dafür größtenteils als absolute Meisterwerke. Und in diese Kategorie darf man getrost auch sein neues Album “Stranger To Stranger” einordnen, auf dem der geniale Songwriter aufregend frisch, anders und modern klingt, während er gleichzeitig raffinierte und subtile Anspielungen auf seine musikalische Vergangenheit einstreut. “Stranger To Stranger” bietet die perfekte Gelegenheit, Paul Simon auf eine neue Art kennenzulernen.
“Most obits are mixed reviews”, singt Simon mit trockenem Humor in “The Werewolf”, der packenden Auftaktnummer des Albums. Zu Deutsch: “Die meisten Nachrufe sind durchwachsene Rezensionen.” Paul Simons eindringliche Stimme und sein mit schwarzem Humor eingefärbter Text geleiten uns hier in eine schöne neue musikalische Welt, in der der Songwriter Erwartungen trotzt und sie übertrifft, so wie er es schon vor dreißig Jahren auf einem anderen Meisterwerk namens “Graceland” tat.
Die markanten Klangtexturen von “Stranger To Stranger” erlauben dem Hörer, Simons einzigartige Stimme in einem überraschenden neuen Kontext zu erleben. Die intuitive und sich ständig ändernde musikalische Palette des Albums erinnert daran, was man an Paul Simon schon in der Vergangenheit liebte; zugleich weckt sie aber auch eine Leidenschaft für diese neue Musik, die kunstvoll das Gute, Schlechte und Hässliche in unserer heutigen durchgedrehten Welt zur Sprache bringt.
“Das ist die Messlatte, die man erreichen muss”, sagt Paul Simon. “In gewissem Sinne ist die Vergangenheit eines Künstlers ein Hindernis, das er mit jeder neuen Arbeit überwinden muss. Du musst die Hörer überzeugen, dass die neuen Songs so lohnend sind wie die früheren. Das Problem ist, dass das nicht leicht ist, und deshalb braucht man oft so lange.” Auch nach fünfzig Karrierejahren arbeitet Paul Simon noch hart, weil er stets versucht, seinen eigenen hohen Standards gerecht zu werden und etwas Neues zu schaffen, das Aufmerksamkeit verdient. Ich möchte nicht einfach ein anderes Album machen", erklärt er. “Es geht darum, etwas zu machen, das wert ist gehört zu werden.”
“Stranger To Stranger” ist es in jeder Hinsicht wert, mehrfach gehört zu werden – und nicht nur von jenen, die Simons Œuvre schon immer liebten, sondern auch von einer ganz neuen Generation von Musikliebhabern. Das abenteuerliche akustische Ambiente von “Stranger To Stranger” – das schon in den bissig-humorvollen Anfangsnummern “The Werewolf” und “Wristband” mehr als deutlich zutage tritt – hat Simon in viele interessante Klangregionen geführt. Nach der Zusammenarbeit mit Brian Eno (2006 bei der Aufnahme des Albums “Surprise”) begann er darüber nachzudenken, wie er ohne den Einsatz von Keyboards und Synthesizern reizvolle Klanglandschaften erschaffen könnte. Deshalb experimentierte er 2011 auf seinem gefeierten letzten Album “So Beautiful Or So What” mit Echoeffekten, benutzte Glocken sowie den Nachhall ihres Klangs und nahm Instrumente aus einer gewissen Distanz auf, um neue Sounds und eine breiter gefächerte musikalische Umgebung zu erschaffen.
Bei den Aufnahmen für “Stranger To Stranger” arbeitete Simon mit seinem alten Freund Roy Halee zusammen, dessen Namen man von zahllosen Alben kennt, die heute zu Recht als Klassiker gelten.  “Roy nahm damals die Simon & Garfunkel-Demos für Columbia Records auf”, erinnert der Sänger. “Das zeigt, wie lange wir uns schon kennen. Mit ihm machte ich auch ‘Bridge Over Troubled Water’ und ‘Graceland’. Er ist immer noch ein absoluter Meister seines Fachs und weiß über die Verwendung von Hall mehr als irgendwer sonst auf der Erde. Ich fühle mich total wohl, wenn ich mit ihm zusammenarbeite, und ich vertraue seinem Geschmack und seiner Meinung – wir haben eine echte Partnerschaft.”
Zusammen trieben Simon und Harlee ihre Experimentierlust noch ein bisschen weiter. “Es geht darum, die Leute etwas auf eine neue Art hören zu lassen. Es geht darum, Musik zu machen, die gleichzeitig vertraut und neu klingt; Musik, die ein wenig geheimnisvoll ist”, sagt Simon. “Man versucht etwas zu erschaffen, was man in seiner Vorstellung hört – etwas, das man kaum hören kann, weil es hinter dem Horizont ist – und man weiß nicht genau, was es ist, denkt aber, das man es erreichen kann.”
Ein weiterer bedeutender Schritt gelang Simon, als er “Insomniac’s Lullaby” für “Stranger To Stranger” schrieb und sich an die musikalischen Möglichkeiten erinnerte, die erstmals von Harry Partch vorgeschlagen wurden, einem amerikanischen Komponisten und Theoretiker des 20. Jahrhunderts, der individuell gefertigte Instrumente in mikrotonaler Stimmung schuf. Über seinen langjährigen Gitarristen Mark Stewart lernte er den Musiker Dean Drummond kennen, der Hüter der originalen Harry-Partch-Instrumentensammlung an der Montclair State University in New Jersey war. “Wir mussten unser Equipment mitbringen, um die Instrumente  in der dortigen Forschungsstätte aufzunehmen”, erzählt Simon. Sie verwendeten für die Aufnahmen so ungewöhnliche Instrumente wie die Cloud-Chamber Bowls und das Chromelodeon. “Wir konnten die Partch-Instrumente nicht mit in unser Studio nehmen.” Das Chromelodeon, ein auf 43-teilige Oktaven gestimmtes Harmonium, gefiel Simon schließlich so sehr, dass er eines kaufte.
“Bis dahin wusste ich nicht, dass Harry Partch Oktaven in 30 bis 43 Mikrotöne unterteilt hatte”, erläutert Simon. “Aber ich verstand, dass unser Ohr mehr erfassen kann als die europäische Definition von dem, was richtig intoniert ist und was nicht richtig intoniert ist. Ein einfaches Beispiel dafür wäre, wenn man einen großartigen Rhythm’n’Blues-Bläsersatz hört, der wirklich fantastisch gespielt, aber leicht verstimmt klingt. Wenn man denselben Part von den Mitgliedern eines Philharmonie Orchesters sauber einspielen ließe, würde das Ergebnis lausig klingen. Manchmal ist das, was ein bisschen schräg klingt, gerade richtig. Und ich denke, das Ohr möchte uns da etwas mitteilen.”
Eine der Schlüsselerkenntnisse, die Simon bei der Erkundung von Harry Partchs musikalischer Welt gewann, war die Feststellung des Komponisten, dass der Gesang in der Musik dem menschlichen Sprechen  ähnlich ist. “Die Stimme wechselt nicht auf einer Notenlinie von einer Note zur anderen, sie rutscht und gleitet durch sie hindurch”, erläutert Simon. “Das war für mich eine wichtige Information, und so begann ich damit, die Gesangslinien auf dem Album entsprechend zu gestalten. Heute benutzten so viele Leute Autotune, um die perfekte Stimmung zu erzielen. Aber ich finde, es gibt weitaus Interessanteres als eine Note genau in der Mitte zu treffen.”
Weitere Klangcollagen schuf Simon mit dem italienischen EDM-Künstler Clap! Clap! (Digi G’Alessio), der auf seinem Album “Tayi Bebba” Naturaufnahmen aus Afrika mit EDM-Klängen vermischte. “Ich suchte Clap! Clap! in Mailand auf”, erinnert sich Simon. “Ich spielte ihm ein Stück vor, an dem ich arbeitete, und er überarbeitete letztendlich drei Tracks des Albums – ‘The Werewolf’, ‘Wristband’ und ‘Street Angel’ – mit seinem Sound.”
“‘Stranger To Stranger’ ist wie ein Album aus dem 20. Jahrhundert, das in eine Klanglandschaft des 21. Jahrhunderts versetzt wurde. Ich kann Liedformen rekonstruieren und Regeln brechen – einen Song diesen oder jenen Weg nehmen lassen, so wie eine Unterhaltung”, führt Simon aus.
Paul Simons “Stranger To Stranger” erinnert uns an die Überraschungen, die wir erleben können, wenn wir innehalten, um der Welt zu lauschen, die uns umgibt. Es ist eine Aufnahme, die uns mit jedem Hören mehr bereichert, die einen kontinuierlich mehr Details entdecken lässt. Vielleicht ist das auch gerade ein generelles Charakteristikum von Paul Simons Musik und ein Grund dafür, dass sich so viele seiner Songs als absolut zeitlos erwiesen haben.
“Klang ist nicht nur das Thema des Albums, sondern auch Gegenstand der einzelnen Songs. Wenn die Leute das verstehen, bin ich glücklich”, meint Paul Simon. “Ich sage nie: ‘Ich werde jetzt einen Song über die Sterblichkeit oder über soziale Ungleichheit schreiben.’ Oder irgendetwas in der Art. In einem gewissen Sinne schreiben die Songs sich nämlich selbst – sie leiten mich und ich folge ihnen nur. Der richtige Song – zur richtigen Zeit geschrieben – kann über Generationen hinweg bestehen. Ein wundervoller Klang aber ist für die Ewigkeit bestimmt.”
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