In seinen Liner Notes zu “At First Light” schreibt Ralph Towner darüber, wie einzigartig es ist, dass er den größten Teil seines Lebenswerks bei einem einzigen Plattenlabel herausgebracht hat. Seit fünfzig Jahren gehört er zum Kreis der ECM-Künstler und hat sich dort in dieser Zeit in vielen unterschiedlichen Konstellationen und Kontexten präsentiert. Wie ein roter Faden ziehen sich dabei Soloeinspielungen durch seinen Aufnahmenkatalog. Die erste erschien 1973 unter dem Titel “Diary”. Danach folgten die Soloalben “Solo Concert” (1980), “Blue Sun” (1983), “Ana” (1997), “Anthem” (2001), “Time Line” (2006) und “My Foolish Heart” (2017). Meist richtete der Multiinstrumentalist auf diesen Alben den alleinigen Fokus auf die Gitarre. So wie er dies auch auf seinem jüngsten Album “At First Light” tut, mit dem er diese Solo-Reihe nun um ein weiteres Meisterwerk ergänzt. “Es gibt vieles, was dafür spricht, dass Ralph Towner am besten ist, wenn er sich ganz solo präsentiert”, meinte Frank-John Hadley einmal in DownBeat. Und mit den Darbietungen auf “At First Light” unterstreicht Towner eindrucksvoll die Richtigkeit dieser Beobachtung.
“Meine Soloaufnahmen”, sagt Towner, “haben immer eigene Kompositionen enthalten, in denen sich Spurenelemente von Komponisten und Musikern wiederfinden, die mich im Laufe der Jahre angezogen haben. Leute wie George Gershwin, John Coltrane, John Dowland, Bill Evans, um nur einige zu nennen. Die Verschmelzung von Klavier- und Gitarrentechniken ist ein wichtiger Aspekt meines Spiels und meiner Kompositionen, und ich denke, dass dieses Album ein gutes Beispiel dafür ist, wie dieses weite Feld der Einflüsse meine eigene Musik prägt.”
Das Repertoire enthält diesmal neben neuen Stücken von Towner auch persönliche Interpretationen des Gitarristen von Melodien aus zwei Broadway-Musicals: Hoagy Carmichaels “Little Old Lady” (aus “The Show Is On” von 1936) und Jule Stynes “Make Someone Happy” (aus “Do Re Mi” von 1960, ein Stück, das Bill Evans gerne spielte). Außerdem macht sich Towner hier den oft gecoverten irischen Traditional “Danny Boy” zu eigen und greift noch einmal “Guitarra Picante” auf, ein Stück aus dem Songbook seiner Band Oregon, mit der er seit 1970 dreißig Alben (sechs davon bei ECM) veröffentlicht hat.
Ralph Towner wurde 1940 in dem Städtchen Chehalis im Bundesstaat Washington in eine musikalische Familie hineingeboren und war von klein auf von klassischer Musik, Jazz und zeitgemäßen Popklängen umgeben. Das erste Instrument, das er mit sieben Jahren lernte, war die Trompete (die auch sein Vater spielte). Als Teenager vertiefte er sich dann ernsthaft ins Klavierspiel und studierte parallel Komposition, bevor er sich mit 22 Jahren der klassischen Gitarre zuwandte. “Ich stellte fest, dass es ein sehr pianistisches Instrument war, auf dem man komplexe Polyphonien und unzählige Tonfarben spielen konnte.” Schon bald zog er nach Wien, um dort klassische Gitarre zu studieren. “Mein Studium umfasste viel Renaissance- und Barockmusik, die anschließend auch stark meine Kompositions- und Aufführungstechniken prägen sollte.”
“Niemand spielt so Gitarre wie Ralph Towner”, merkte sein Instrumentalkollege Scott Nygaard einmal an. “Und obwohl seine Kompositionen (in denen er eine Vorliebe für barocke Stimmführung, Strawinskische Harmonien und ungerade Taktarten mit seinem eigenen starken Sinn für Melodie kombiniert) oft ‘klassisch’ klingen, liegt das vor allem daran, dass jedes Stück organisch und elegant aus einer anfänglichen Idee heraus erwächst.” Doch Towner bezieht seine entscheidenden Inspirationen nicht nur aus der klassischen Musik und zeitgenössischen Kompositionen. Tiefgreifend beeinflusst wurde er auch von Bill Evans’ Jazzkonzept und brasilianischer Musik.
“Im Laufe der Jahre habe ich diese Einflüsse fortwährend auf meine eigene Art und Weise adaptiert”, sagt Towner. “Ich habe sie abstrahiert und modifiziert, bis die Quellen nicht mehr erkennbar waren und ich, fast ohne es zu merken, zu einem eigenen Idiom gefunden hatte.”
Towners umfangreiche ECM-Diskographie umfasst neben den Soloeinspielungen auch Duettaufnahmen mit John Abercrombie (“Sargasso Sea”, “Five Years Later”), Gary Peacock (“Oracle”, “A Closer View”), Gary Burton (“Matchbook”, “Slide Show”), Peter Erskine (“Open Letter”) und Paolo Fresu (“Chiaroscuro”). Zu seinen Ensemble-Alben gehören “Solstice” und “Sound And Shadows” (mit Jan Garbarek, Eberhard Weber und Jon Christensen), “Batik” (mit Eddie Gómez und Jack DeJohnette), “Old Friends, New Friends” (mit Kenny Wheeler, David Darling, Eddie Gómez und Michael Di Pasqua), “City Of Eyes” (mit Markus Stockhausen, Paul McCandless, Gary Peacock und Jerry Granelli), “Lost And Found” (mit Denney Goodhew, Marc Johnson und Jon Christensen) und “Travel Guide” (mit Wolfgang Muthspiel und Slava Grigoryan). Darüber hinaus war er auch auf Alben von Keith Jarrett (“In The Light”), Jan Garbarek (“Dis”), Kenny Wheeler (“Deer Wan”), Egberto Gismonti (“Sol do meio dia”), Arild Andersen (“If You Look Far Enough”) und Azimuth (“Départ”) zu hören.