Kaum ein anderer Jazzmusiker beherrschte in den 1990er Jahren so sehr die Schlagzeilen wie der Trompeter Roy Hargrove. In den Kritiker- und Leserumfragen der Jazzmagazine stand der Texaner regelmäßig an der Spitze. Das Nachrichtenmagazin Newsweek ernannte ihn zum “hottest jazz trumpet player of the world”. Und mit seiner aufregenden amerikanisch-kubanischen Band Crisol strich er im Februar 1998 für das Album “Habana” seinen ersten Grammy ein. Nur zwei Monate später ging Hargrove mit den Musikern von Crisol erneut in ein Studio auf der Karibikinsel Guadeloupe, um ein Nachfolgealbum aufzunehmen, das dann aber nie das Licht der Welt erblickte.
Erst jetzt, sechs Jahre nach dem überraschenden Tod des Trompeters, der am 2. November 2018 mit nur 49 Jahren einem Herzinfarkt erlag, erscheinen diese Aufnahmen bei Hargroves altem Label Verve unter dem Titel “Grande-Terre”. Das Album zeigt Hargrove – der damals noch keine 30 Jahre alt war – im Zenit seines Könnens. Mal explodiert er auf seiner Trompete förmlich vor Energie und Feuer, dann wieder intoniert er auf dem Flügelhorn schmachtende Boleros und Rumbas. Warum diese Aufnahmen 26 Jahre lang in einer Schublade lagen, wird wohl auf immer ein Rätsel bleiben.
Die Stufen zum Olymp der Jazzmusiker hatte Roy Hargrove in geradezu rasanter Weise erklommen, nachdem er sich 1987 als 17-Jähriger bei einem Konzert in Fort Worth/Texas mit Wynton Marsalis auf der Bühne messen durfte. Die Begegnung mit dem Guru der Neotraditionalisten war für den jungen Trompeter der erste große Schritt in Richtung seiner internationalen Karriere. Nach einem kurzen Studienaufenthalt am Berklee College of Music spielte der aufstrebende Hargrove im Dezember 1989 für Novus Records sein Debütalbum ein, das den äußerst passenden Titel “Diamond In The Rough” trug – denn ein “ungeschliffener Diamant” war der damals 20-jährige Protagonist in der Tat.
Schlag auf Schlag folgten für das Label vier weitere Hardbop-Alben. Und jedes einzelne konsolidierte Hargroves Ruf, die neue Speerspitze der “Young Lions” zu sein, jener Hüter und Bewahrer des traditionellen Jazz. Nebenher gastierte er auf Alben von Jazzlegenden wie Jackie McLean und Sonny Rollins, der für den Trompeter eigens ein Stück mit dem Titel “Young Roy” komponierte! Doch schon bald gab es auch erste Indizien dafür, dass ihm das Korsett des “Young Lion” ein wenig zu eng wurde. Auf Platten von Steve Coleman & The Five Elements und Buckshot LeFonque (a.k.a. Branford Marsalis) streckte Hargrove seine Fühler in neue musikalische Richtungen aus.
Auf seinen eigenen Alben blieb er zunächst dennoch dem reinen Jazz treu. 1993 wechselte Hargrove zu Verve Records und spielte mit Johnny Griffin, Joe Henderson, Branford Marsalis, Joshua Redman und Stanley Turrentine als erstes das Album “With The Tenors Of Our Time” ein, das sich erstaunliche 100.000 Mal verkaufte. Es folgten die Alben “Family” (mit einem Gastauftritt von Wynton Marsalis) und “Parker’s Mood” (gemeinsam mit Pianist Stephen Scott und Bassist Christian McBride, zwei anderen jungen Verve-Stars). Dann unternahm er auf “Habana” den Grammy-prämierten Abstecher in die Gefilde des afrokubanischen Jazz und legte zum mit “Moment To Moment” ein mit Streichern aufgenommenes Balladen-Opus vor.
Vier Jahre lang legte Roy Hargrove seine Solokarriere auf Eis, um sich in musikalische Projekte von anderen Künstlern einzubringen: So spielte er auf zwei Alben des Rappers Common mit, begleitete die Neo-Soul-Diva Erykah Badu, die er noch aus der Highschool kannte, und den Sänger D’Angelo. Gemeinsam mit Herbie Hancock und Michael Brecker nahm er 2002 für Verve außerdem das mit zwei Grammys ausgezeichnete Album “Directions In Music: Live At Massey Hall” auf, eine Hommage an Miles Davis und John Coltrane.
Erst 2003 meldete sich Hargrove triumphal mit einem brandneuen eigenen Projekt zurück: auf “Hard Groove” präsentierte er mit seiner neuen Band RH Factor eine hochspannende Fusion aus Neo-Soul, Hip-Hop und Jazz. 2004 ließ er mit RH Factor noch die EP “Strength” und 2006 das Album “Distractions” folgen. Als Gäste wirkten an den drei Einspielungen, die nicht nur in Jazzzirkeln überschwänglich gelobt wurden, u.a. Common, Erykah Badu, D’Angelo, Renee Neufville, Meshell NdegeOcello, Stephanie McKay, Q-Tip und Omar mit.
Parallel zum letzten Album von RH Factor veröffentlichte Roy Hargrove jedoch auch eine neue Platte, die er mit seinem akustischen Quintett und Gaststar Slide Hampton eingespielt hatte und die seine Rückkehr zum lupenreinen Jazz markierte: “Nothing Serious”. Dieser Linie blieb er auch auf seinen beiden letzten Alben “Earfood” und “Emergence” treu. Letzteres entstand 2009 mit der ersten eigenen Bigband des Trompeters.
Danach trat er zwar noch gelegentlich auf und wirkte als Gast auf Alben von u.a. Jimmy Cobb, Roy Haynes, D’Angelo und zuletzt 2018 auf Kandace Springs’ “Indigo” mit. Aber aufgrund zunehmender gesundheitlicher Probleme spielte er traurigerweise kein eigenes Album mehr ein. Wie sein langjähriger Manager und Produzent Larry Clothier später verriet, war Roy Hargrove, der an einer chronischen Nierenerkrankung litt, die letzten 14 Jahre seines Lebens Dialysepatient gewesen.