Wie so viele griechische Tragödien ist auch Sophokles' “Elektra” (die von anhaltendem Leid und blutiger Vergeltung handelt) heute noch genauso relevant wie zirka 420 Jahre v. Chr., als das Stück zum ersten Mal aufgeführt wurde. Daran dachte wohl auch der von den Filmemachern Theo Angelopoulos und Andrej Tarkovsky beeinflußte griechische Theaterregisseur Yannis Margaritis, als er den norwegischen Bassisten Arild Andersen für seine Neupräsentation dieser Geschichte um eine “sehr moderne” Musik bat.
Für diese Arbeit mit Margaritis' Theaterensemble, die im Rahmen der Kulturolympiade 2001–2004 im Juni 2002 in Athen ihre Uraufführung erlebte, scharte Andersen alte und neue Bekannte, norwegische und griechische Künstler um sich, die er durch eine weitläufige Klanglandschaft führte, welche der Bassist an verschiedenen Orten entworfen und produziert hatte. Andersen, der dieses Jahr 60 wird, betrachtet sein Album “Electra” als eine Art Resümee der musikalischen Richtungen, die er in den letzten Jahren eingeschlagen hat. Den Schwerpunkt setzt er hier bei Struktur und Arrangement.
In den letzten paar Jahren hat Griechenland in Andersens Tourneeplanungen immer mehr an Bedeutung gewonnen. Seit den späten 90ern, als er dort mit Markus Stockhausen einige Gastspiele gab, hat eine Reihe von Tourneen unternommen, bei denen er griechische Musiker der unterschiedlichsten Stilrichtungen kennenlernte. Etwa den Pianisten Vassilis Tsabropoulos, der danach als Mitglied des Arild Andersen Trios auf den Alben “Achirana” (ECM 1728) und “The Triangle” (ECM 1752) mitwirkte. Oder die Sängerin Savina Yannatou, die erst vor kurzem zwei Alben bei ECM herausbrachte: “Terra Nostra” (ECM 1856) und “Sumiglia” (ECM 1903). Yannatou singt hier die “lyrischen” Texte von Sophokles und wird dabei von einem griechischen Chor (Chrysanthi Douzi, Elly-Marina Casdas und Fotini-Niki Grammenou) unterstützt.
Der Hauptsänger ist in gewissem Sinne jedoch der norwegische Trompeter Arve Henriksen mit seiner “singenden”, “vokalen” Spielweise. Henriksen, der in beinahe allen Stücken als Solist im Vordergrund steht, studierte nicht nur die Tradition der Trompete, sondern setzte sich in den letzten Jahren nicht weniger intensiv mit den Klängen der exotischen Instrumente Shakuhachi und Duduk auseinander. Henriksen ist Mitglied der Gruppen von Trygve Seim und Christian Wallumrød (dessen neues Album “A Year From Easter” parallel zu Andersens “Electra” erscheint), nahm für ECM aber auch schon mit Jon Balkes Ensembles auf.
Ein weiterer Trompeter zeigt sich hier in einer etwas ausgefallenen Rolle. Die Jazzwelt lernte den damals 27jährigen Nils Petter Molvær 1987 als Mitglied von Arild Andersens Quartett Masqualero kennen. Nun ist Molvær wieder zum Kreis der Musiker um Andersen gestoßen, um die schweren Drumbeats für “7th Background” zu programmieren, ein Stück, das vom Geist her ebenso gut von den beiden Molvær-Alben “Khmer” (ECM 1560) und “Solid Ether”(ECM 1722) stammen könnte.
Auch Eivind Aarset, der in den 90er Jahren in Molværs Band spielte, genießt längst weit über die Grenzen Norwegens hinaus einen exzellenten Ruf. Mit seiner eigenen Band Électronique Noir legte er bislang drei Alben vor, die hervorragende Kritiken erhielten. Aarset ist nicht nur auf Molværs ECM-Alben zu hören, sondern – gemeinsam mit dem Trompeter – auch auf Marylin Mazurs “Small Labyrinths” (ECM 1559). Andersens “Electra”-Kompositionen ermunterten Aarset manchmal dazu, seinem frühen Vorbild Terje Rypdal nachzueifern.
Der aus Italien stammende Schlagzeuger und Perkussionist Paolo Vinaccia ist nun schon seit rund 25 Jahren eine feste Größe in der norwegischen Musikszene und war als Begleiter von Andersen und Rypdal an der Einspielung der ECM-Alben “Hyperborean” (ECM 1631) und “Skywards” (ECM 1608) beteiligt. Als Partner steht ihm hier erstmals auf einer Platte der französische Drummer Patrice Héral zur Seite, der 1999 mit Arild Andersen, Terje Rypdal und Markus Stockhausen das Album “Kart~” (ECM 1704) für ECM einspielte.
Natürlich gibt es auf diesem Album auch genügend Gelegenheit, dem kraft- und phantasievolle Baßspiel des Bandleaders zu lauschen. Andersen gilt als eine der “vier Vaterfiguren” des norwegischen Jazz, macht seit 1970 Aufnahmen für ECM und beeinflußt seitdem Musiker nachfolgender Generationen. Daß er nicht nur in seiner Heimat einen exzellenten Ruf hat, sondern auch von großen internationalen Kollegen sehr geschätzt wird, bewies seine Zusammenarbeit mit Leuten wie Sam Rivers, Sheila Jordan, Roswell Rudd, Don Cherry und George Russell. “Electra” ist Andersens sechzehntes ECM-Album als Leader. Für das Münchner Label nahm er darüber hinaus auch Platten an der Seite von Jan Garbarek, Terje Rypdal, Bill Frisell, David Darling und Robin Kenyatta auf.