Vijay Iyer | News | Musik mit einem Sinn für Wunder

Musik mit einem Sinn für Wunder

Acht Jahre nach ihrem faszinierenden ersten Duo-Album “A Cosmic Rhythm With Each Stroke” haben sich der Pianist Vijay Iyer und der Trompeter Wadada Leo Smith auf “Defiant Life” erneut auf eine Reise durch ihr einzigartiges Klanguniversum begeben. 
Vijay Iyer & Wadada Leo Smith
Vijay Iyer & Wadada Leo Smith(c) Ogata
19.03.2025
Das Album auf LP und mehr von ECM Records finden Sie in unserem JazzEcho-Store.
 
“Diese Aufnahmesession stand ganz im Zeichen unserer anhaltenden Trauer und Empörung über die im vergangenen Jahr verübten Grausamkeiten , aber auch unseres Vertrauens in das Potenzial der Menschheit.” (Vijay Iyer)
Die musikalischen Wege von Vijay Iyer und Wadada Leo Smith kreuzten sich erstmals vor zwanzig Jahren, als der Trompeter den Pianisten in sein Golden Quartet holte. Schon bald bildeten die beiden bei Auftritten mit dem Ensemble “eine Einheit innerhalb der Einheit und erzeugten spontane Duo-Episoden” (Zitat Vijay Iyer), die sie wenig später auch als reines Duo fortsetzten. Dokumentiert wurden diese größtenteils improvisierten Zwiegespräche das erste Mal 2016 auf dem gemeinsamen ECM-Album “A Cosmic Rhythm With Each Stroke”. Nun erscheint endlich ihre lang erwartete zweite Duo-Aufnahme “Defiant Life”, eine tiefgründige Meditation über die Conditio humana, in der sie sowohl über die Härten des Lebens als auch über die Widerstandskraft und Anpassungsfähigkeit des Menschen reflektieren. Das Album ist zugleich aber auch ein Beweis für die einzigartige künstlerische Beziehung des Duos und die grenzenlosen musikalischen Ausdrucksformen, die sie in dieser Konstellation finden.
Denn wenn Vijay Iyer und Wadada Leo Smith zusammenkommen, um gemeinsam Musik zu machen, verbinden sie sich gleichzeitig auf mehreren Ebenen: “Unsere gemeinsame Zeit, von dem Augenblick an, in dem wir uns treffen, bis zu dem Moment, in dem wir anfangen zu spielen, verbringen wir meistens damit, uns über den Zustand der Welt zu unterhalten. Wir sprechen über Geschichten der Befreiung, tauschen uns über unsere aktuelle Lektüre und historische Bezüge aus, um uns gezielt in unserer Gegenwart zu erden.”  Für die Liner Notes des Albums hat Vijay Iyer ein solches Gespräch  ausführlich transkribiert und gibt so einen tieferen Einblick in die verschiedenen Themen, die sie ihrer Musik und insbesondere zu dem Begriff “defiant” im Titel des Albums inspiriert haben.
Zwei Stücke des Albums sind bedeutenden Persönlichkeiten der jüngeren und der etwas weiter zurückliegenden Vergangenheit gewidmet: Smiths “Floating River Requiem” dem 1961 ermordeten kongolesischen Premierminister Patrice Lumumba und Iyers “Kite” dem  palästinensischen Schriftsteller und Dichter Refaat Alareer, der 2023 in Gaza getötet wurde. Innerhalb dieses kontemplativen Bezugsrahmens lassen sie ihre Musik frei sprechen.
Aus der Dunkelheit schleicht sich der Opener “Prelude: Survival” hervor und zieht den Hörer in seine düstere Gegenwart hinein. Die beiden Musiker hellen die tiefe Finsternis hellen nur sehr sparsam mit Farben auf, füllen die Leinwand eher mit assoziativen Klängen als mit expliziten Bildern. Gleich darauf verbreitet “Sumud” ein irisierendes Leuchten, das Vijay (der auf diesem Album nicht nur Klavier und Fender Rhodes spielt, sondern auch elektronische Geräte einsetzt) durch hohe, orgelartige elektronische Modulationen erzeugt. Das Stück ist ein Beispiel für die bemerkenswerte Eigenwilligkeit, mit der der Trompeter und der Pianist interagieren, wenn sie eine tief verschlungene Klanglandschaft entwirren. Durch das Pulsieren und die  Klangteppichen erhält die Musik eine geradezu “kosmische” Qualität, die natürlich sofort an das erste Album des Duos denken lässt.
“Wir arbeiten in unseren individuellen Sprachen und mit unseren eigenen Materialien”, merkt Vijay Iyer in seinen ausführlichen Liner Notes an, “mit unseren eigenen Methoden der gehörmäßigen Einstimmung und dem, was ich eine gemeinsame Ästhetik der Notwendigkeit nennen würde.” Eine Notwendigkeit, die sowohl dringlich und friedvoll ist, aber manchmal auch brutal sein kann. In “Sumud” kommt diese Notwendigkeit bedrohlich zum Ausdruck, in “Floating River Requiem” mit einer feierlichen Aura versehen, in “Elegy: The Pilgrimage” immer noch voller Zweifel, aber mit einem Hoffnungsschimmer, und im abschließenden “Procession: Defiant Life” dann erschütternd schön.
Angesprochen auf seine Beziehung zu Vijay und ihre gemeinsame Fähigkeit, Musik einfach “geschehen zu lassen” zu lassen, sagt Wadada: “Was wirklich einzigartig ist, ist unsere Unfähigkeit, uns zu erlauben, Dinge zu fixieren [d.h. die Musik vollständig vorher festzulegen]. Um das zu tun, müssten wir wohl anders gestrickt sein. Wenn wir unsere Performance beginnen, sind wir schon sehr konzentriert, weil wir bereits über einen gewissen Zeitraum hinweg über die Musik nachgedacht haben, aber ohne dabei etwas festzulegen. Wenn wir dann an dem Punkt angelangen, an dem wir die Stücke tatsächlich errichten, sind wir immer noch offen für diese unermesslichen Momente der Inspiration. Ich denke, es ist etwas ganz Außergewöhnliches, wenn wir diese Inspirationen in uns hinein- und wieder herausströmen lassen, wenn wir diesem gegenwärtigen Moment erlauben, sich zu zeigen.”
Als das Duo anlässlich der Veröffentlichung von “A Cosmic Rhythm With Each Stroke” im April 2016 zu einem Konzert nach Washington kam, bemerkte Michael J. West in der Washington Post wie “wunderbar das Spiel von Smith und Iyer ineinander greift. Sie haben ein gleiches Gespür für Tempo, Spannung und die durchdachte Auswahl von Noten und Phrasierungen.” Ihre gemeinsame Liebe zum Detail und ihre Geduld beim Aufbau sorgfältiger Phrasen und Wortwechsel machen jede entwickelte Struktur zu einer eigenen Klangsphäre. In Vijay Iyers “Kite” manifestiert sich dies in einem zutiefst lyrischen und beruhigenden Wechselspiel zwischen Fender Rhodes und Trompete. Wenn “Defiant Life” eine Kontemplation über das Leben als solches ist, dann ist es der Sinn für Wunder, der in der Musik dieses Albums voll zur Entfaltung kommt.
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