Das Multiversum des Mr. Seltsam – neues Wayne-Shorter-Album
Mit 85 Jahren präsentiert Saxofonist, Komponist und Allround-Jazzer Wayne Shorter ein ungewöhnliches Magnum Opus auf LP und CD mit dazugehörender Graphic Novel.
Wayne Shorter - Emanon
13.09.2018
Newark, New Jersey, unendliche Weiten. Wir schreiben das Jahr 1947. Es ist Winter, vielleicht Ende Januar. Wayne Shorter, 12, Sohn einer Kürschnerin und eines Schweißers in der Nähmaschinenfabrik Singer, hat vor kurzem den städtischen Kunstwettbewerb gewonnen. Nun geht er als angehender Maler auf die “Arts High School”, oft auch daran vorbei, ins Kino oder um irgendwo seine Lieblingsserie “Mysterious Traveler” im Radio zu hören, Comics oder Science Fiction-Bücher zu lesen oder mit seinem Bruder auf dem brachen Nachbargrundstück zu spielen. Seine Fantasie macht daraus den Ozean, die Savanne, den Mars. Mitten in diesen märchenhaften Welten trifft ihn, neben Sängerin Yma Sumac und Strawinsky, der Bebop. Wie ein Schlag. Dizzy Gillespies “Emanon” hat es ihm angetan, schon wegen des Titels. Im rückwärts geschriebenen “No Name” erkennt sich Wayne wieder, dessen Eigenartigkeit so offensichtlich ist, dass er sich selbst “Mr. Weird” nennt und der Ausdruck “as weird as Wayne”, “so seltsam wie Wayne”, bei seinen Spielkameraden zum geflügelten Wort wird.
Jetzt, gut siebzig Jahre später, inzwischen über seine Arbeit mit Art Blakey’s Jazz Messengers, mit Miles Davis, als Leader der von ihm mitgegründeten Fusion-Band “Weather Report” und natürlich als Solist längst selbst in den Jazz-Olymp aufgestiegen, nimmt Wayne Shorter das Thema wieder auf. “Emanon” heißt nun auch sein eigenes neues Album, das viel mehr als ein handelsübliches Album ist. Das Werk hat er in Studioaufnahmen mit seinem Quartett und dem Orpheus Chamber Orchestra eingespielt, sowie zusätzlich noch in reinen Quartettfassungen live im Londoner "The Barbican". Visualisiert wird es durch eine Graphic Novel, die als Hardcover-Buch gleichwertiger Bestandteil der CD- und LP-Sets ist.
Offensichtlich hat es Wayne Shorter nie ganz losgelassen, das Gefühl der Namenlosigkeit, der Anonymität und Entmachtung, die er als junger African-American, damals im besten Falle “Negro”, in Newark erlebt hat. Mit einer beeindruckenden Mischung aus Musik, Science Fiction und Comic Strip, arbeitet er jetzt seine Lebenserfahrungen auf und schreibt dagegen an – durch Kampf zur Schönheit, könnte das Motto heißen, hin zu besseren Welten. Denn nicht nur die Kreativität des Wayne Shorter hat mehrere Ebenen, auch unser Universum ist seiner Meinung nach nicht allein; es koexistiert als Multiversum mit Parallelwelten, die der “rogue Philosopher” Emanon in der von Randy DuBurke gezeichneten Graphic Novel durchkämpft, um ihren Bewohnern den Schleier der Ignoranz fortzureißen, die Eiseskälte der Unterdrückung zu schmelzen und die “schlummernden Möglichkeiten” ihrer Bewohner freizusetzen. Nicht mehr und nicht weniger. Schließlich ist Emanon ein Superheld, optisch irgendwo zwischen dem jungen Wayne Shorter und dem Astrophysiker Neil deGrasse Tyson, und seine Plattform ein Comic.
Natürlich sind die mehr als zwei Stunden Musik von “Emanon” mehr als nur der Soundtrack zu den Abenteuern des schlagkräftigen Comic-Philosophen. Das erste Album, eine Studioproduktion von 2013 mit Shorters Quartett und dem Orpheus Chamber Orchestra, wirkt cineastisch, dramatisch, weitgehend auskomponiert. “Pegasus”, “Prometheus” und “The Three Marias”, letztere im Comic einem gleichnamigen, bösen Medienkonzern gewidmet, sind romantische Streicherwelten die oft als Melodie-Startbahnen für Shorters Sopran-Sax-Improvisationen fungieren. Das Quartett reichert den Orchestersound harmonisch und rhythmisch an, bricht aber auch nicht übermäßig aus, wenn die Streicher und Bläser für ein paar Minuten das Feld räumen. Die improvisierten Dialoge von Pianist Danilo Perez und Shorter, etwa in “The Three Marias”, wirken spielerisch, leicht und wie überrascht ob der plötzlich wiedergewonnen Freiheit, ein kurzes Durchatmen, bevor das Orpheus Chamber Orchestra den Spannungsbogen wieder aufzieht. Das düstere, getragene “Lotus” erinnert an Debussy, den von ihm beeinflussten Bartok und die “Third Stream”-Kompositionen von etwa Teo Macero, Gil Evans oder Gunther Schuller. Auch darin finden sich die frühen Einflüsse des Mr. Weird aus Newark wieder, der mit Wiederholungen und Modulationen laboriert, trotz aller äußeren Eindrücke unbeirrt in seiner eigenen Gedankenwelt.
Auf den beiden Live-Alben holt Shorter, jetzt “nur” noch mit seinem seit 2001 bestehenden Ensemble mit Pianist Danilo Perez, Bassist John Pattitucci und Drummer Brian Blade, improvisatorisch weiter aus. Es ist die Aufnahme eines Konzerts im Rahmen des London Jazz Festival im Londoner “The Barbican” vom November 2016. The artsdesk.com schrieb damals von einem Abend “eindrucksvoller Kunst”, erkannte im Leader einen “Saxofonisten, der zum Minimalen tendiert, sich vielleicht teils auch seine Energie bewahrt” und in der Band dazu die “Energie eines Teams von Spitzensportlern”. Deren Version von “The Three Marias” wird hier pfeifend eröffnet, dazu mit gestrichenem Bass, dezenten Tastentönen und ein wenig Percussion. Der Leader greift jetzt zum Tenorsaxofon, der Pianist bringt seine panamaischen Wurzeln ins Spiel, Brian Blade und John Pattitucci lassen die Groove-Zahnräder greifen, der Tanz wird freier, fast eine halbe, spannende Stunde lang schon im ersten Stück. Bei den “Adventures Aboard The Golden Mean”, mit gut viereinhalb Minuten das kürzeste Stück, schwingt das Quartett, die Melodie könnte fast aus alten Blue-Note-Zeiten kommen, irgendwo zwischen “Ju Ju” und “The All Seeing Eye”.
Dass dieses in jeder Hinsicht große Werk wieder bei Blue Note erscheint, ist natürlich auch Don Was zu verdanken. Der Präsident des Labels wirkt nicht nur optisch wie einer der Fabulous Furry Freak Brother, um in der Welt des Comics zu bleiben. Auch seine Ideen sind im besten Sinne freaky. Er schlug die Graphic Novel und deren Zeichner Randy DuBurke vor, sorgte möglicherweise für die finanzielle Unterstützung des Aaron Copland Fund for Music, und unterstützt das Konzept, dieses Gesamtkunstwerk in aufwändigster Verpackung – als 3-CD-Set mit Graphic Novel und zusätzlich noch mit 3 LPs dazu in einer großen Box – auf einen rapide schrumpfenden Markt zu bringen. Die Vinyl-Freunde müssen sich übrigens noch zwei Wochen gedulden: die LP-Box erscheint 14 Tage nach der CD-Box. Geradezu radikal ist Blue Notes und Wayne Shorters Entscheidung zu nennen, dass das Werk nur physisch, also weder zum Download noch im Stream, “Emanon” sein wird.
Wayne Shorters Multiversum, unendliche Weiten. Wir schreiben das Jahr 2018. Dies sind die Abenteuer des Superhelden Emanon, der mit einem Comic-Zeichner, einem Jazz-Quartett und dem “Orpheus Chamber Orchestra” fünf Jahre unterwegs war, um fremde Galaxien zu erforschen, neues Leben und neue Zivilisationen. Viele Lichtjahre von der Erde entfernt dringen sie in Galaxien vor, die nie ein Mensch zuvor gesehen oder gehört hat. “Emanon” ist ein Lichtblick, auch und gerade weil diese audiovisuelle Außergewöhnlichkeit von einem Altmeister wie Wayne Shorter kommt. “Live long and prosper”, kann man da nur wünschen.