Wynton Marsalis | Offizielle Biografie

Biografie: Live At The House Of Tribes

Wynton Marsalis
Wynton Marsalis
WYNTON MARSALIS
“Live At The House Of Tribes”

Wynton Marsalis zählt zu den bedeutendsten Trompetern der Welt. Tatsächlich beschäftigt er sich aber nicht nur mit seinem Instrument, sondern wendet auch Zeit für andere Aktivitäten auf – viel Zeit. So engagiert sich der am 18. Oktober 1961 in New Orleans geborene Musiker zum Beispiel als künstlerischer Direktor des renommierten Jazz At The Lincoln Center und außerdem als internationaler UN-Friedensbotschafter. Da stellt sich die Frage, wie es der Perfektionist und neunfache Grammy-Preisträger, der sich gerne komplexen Projekten (“Blood On The Fields”, 1997 mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet) und langfristigen Schaffenszyklen (“Standard Time Vol. 1–6”) widmet, mit den Kernwerten des Jazz hält: Intensität, Improvisation und Interaktion, nur so zum Beispiel. Eine überraschend frische und klare Antwort darauf gibt seine dritte Blue-Note-Veröffentlichung: Auf “Live At The House Of Tribes” ist Wynton Marsalis vor allem als begnadeter Improvisator und kompromissloser Swinger zu erleben.

Schon der Aufnahmeort des Live-Mittschnitts ist ungewöhnlich für Marsalis, der sonst eher in großen Konzerthallen gastiert. Denn beim House of Tribes handelt es sich um einen kleinen Club an der New Yorker Lower East Side, der gerade ein paar Dutzend Gäste fasst. Das kleine, aber äußerst enthusiastische Publikum durfte an jenem 15. Dezember 2002 einen Abend erleben, bei dem Interpretationen von Standards im Mittelpunkt standen. “Live At The House Of Tribes” enthält die sechs glanzvollsten, darunter “Green Chimneys” von Thelonious Monk, “Donna Lee” von Charlie Parker und “What Is This Thing Called Love” von Cole Porter.

Bei seinem Auftritt im House of Tribes wurde Marsalis von einer All-Star-Formation unterstützt: Joe Farnsworth am Schlagzeug, Kengo Nakamura am Bass, Eric “Top Professor” Lewis am Piano sowie Wessell “Warmdaddy” Anderson am Altsaxophon. Sowohl Lewis als auch Anderson zählen zum Zirkel der Freunde, die seit Jahren mit Marsalis zusammenarbeiten – entsprechend froh war der Leader, diese Musiker im House of Tribes um sich zu haben: “Eric gehörte zu diesem Zeitpunkt nicht zur Band, also haben wir ihn nur für diese Nacht gebucht. Ich liebe ihn einfach. Und Wess, nun, sie sollten ihn ‚Warmwell' und nicht nur ‚Warmdaddy' rufen. Dieser Bruder ist ein Prinz!”

Auch Farnsworth und Nakamura sind essentielle Bausteine der Bandstruktur: “Ich hatte noch nie mit Joe Farnsworth gespielt”, so Marsalis, “aber ich wusste, dass er leidenschaftlich swingt. Es war mein Wunsch, mit Leuten zu spielen, die leidenschaftlich swingen. Viele Musiker können ja spielen, aber sie swingen eben nicht mit Leidenschaft. Und ich mag einfach die kompromisslosen Swinger. Denn die strengen sich ernsthaft an bei solch einem Projekt.” Ein besonders enges Verhältnis hat Marsalis zudem zu seinem japanischen Bassisten Nakamura: “Ich kenne Kengo gut. Jedesmal, wenn wir nach Japan kommen, hält er Sake für uns bereit. Und einmal, als Kengo hier war, feierten wir eine großartige Party bei mir zuhause. Antonio Ciacca, der italienische Pianist, war zu dieser Zeit auch hier. Also feierten wir eine japanisch-italienisch-afroamerikanische Party, weil Kengos Vater extra aus Japan angereist war, um uns zu hören. (…) Kengo ist immer wie ein Teil meiner Familie gewesen. Er ist ebenfalls ein Kompromissloser. Er drängt nach vorne. Er bringt ein sicheres Gespür für diese Musik mit. Und deshalb bin ich zufrieden, dass wir das hier mitgeschnitten haben – besonders für seinen Vater, der den Swing ebenso liebt.”

Tatsächlich erweist sich “Live At The House Of Tribes” von den ersten Sekunde an als unnachgiebiges Bekenntnis zum Swing. Grandios ist schon der Starter “Green Chimneys”, wo Monks modale Verläufe durch triumphale Soli von Marsalis und Anderson gekrönt werden. Die Ballade “You Don’t Know What Love Is” meistert das Quintett mit größtmöglicher Subtilität, ohne dabei in Sentimentalität zu verfallen. Große Virtuosität beweisen die Musiker auch beim Bebop-Standard “Donna Lee”, der nicht allein durch seine Geschwindigkeit höchste technische Ansprüche stellt. Nicht zu vergessen die Partynummer “2nd Line” aus der reichen Jazztradition von New Orleans, Marsalis' Geburtsstadt. “Das ist New-Orleans-Musik!”, gluckst der Leader fröhlich. “Die Leute mögen es. Du kannst es überall spielen. Wir spielten es bei einer großen Jamsession in Sao Paulo. Junge, wir stiegen ein und die Leute rasteten aus. Einfach jeder in dem Club hüpfte herum.”

“Live At The House Of Tribes” zeigt, dass Jazz immer swingt und Swing pure Lebensfreude ist. Das bedeutet auch, dass der große Jazzkünstler Wynton Marsalis auf seiner jüngsten Blue-Note-Veröffentlichung von einer erstaunlich ungezwungenen Seite zu erleben ist: “Wir kommen einfach zusammen und spielen. Es geht um unser Spiel und das Level, auf dem wir spielen. Wir hatten diese Session zunächst gar nicht als Platte geplant. Wir wussten nicht, dass sie uns aufnahmen. Es zeigt einfach, wie wir spielen. Zugleich bin ich sehr glücklich mit diesem Album. Wie ich mit überhaupt allen Alben glücklich bin. Sie sind alle ein Bestandteil von mir. Ich ordne sie nicht in einer bestimmten Reihenfolge. Wie ein Kind, verstehst du. Und ich werde noch vieles aufnehmen.”

August 2005