Eines ist sicher: Yaron Herman lässt niemanden kalt. Der phänomenale israelische Pianist ist dafür bekannt, immer mit vollem Einsatz zu spielen. Jedes seiner Konzerte geht er an, als ob es sein letztes sein könnte. Vor allem die Intensität seiner Solo-Recitals brachte ihm den Ruf ein, ein neuer Keith Jarrett zu sein. Wie dieser ist Herman ein Künstler, der sich nicht auf seinen Lorbeeren ausruht, sondern stets neue Herausforderungen fernab musikalischer Konventionen sucht. Dabei ist es seine Ambition, Genre-Grenzen weit hinter sich zu lassen. So gelang es ihm, sich innerhalb von zwölf Jahren als einer der spektakulärsten Instrumentalisten des Jazz zu etablieren und ein beachtliches junges und loyales Publikum zu erobern. Musik ist seine Obsession und Lebensinhalt. Er braucht sie – wie “Everyday”, der Titel seines Debütalbums für Blue Note Records, nahelegt – täglich, wie die Luft zum Atmen.
Mit “Everyday” schlägt Yaron Herman ein neues Kapitel in seiner Karriere auf. “Es fing damit an, dass ich ins Studio ging, um einfach ein paar Dinge auszuprobieren”, erzählt der Pianist. “Ich wollte neues Material testen und sehen, wie das Repertoire funktioniert. Aber uns wurde sehr schnell klar, dass etwas Magisches vor sich ging. Wir experimentierten, wir improvisierten, und schon bald hatten wir das Gefühl, dass etwas Besonderes passierte.” Was war geschehen? Es schien, als ob bei den Sessions die vielen verschiedenen musikalischen Erfahrungen, die Herman in über zehn Jahren gesammelt hatte, zusammenflossen und die Trennung zwischen Jazz, Klassik und Pop vollkommen aufgehoben wurde. “Ich hatte das Gefühl, dass all diese Elemente zueinander fanden und plötzlich ein kohärentes Ganzes bildeten.”
Das gesamte Album konzipierte Yaron Herman mit dem Schlagzeuger Ziv Ravitz, den er als sein Alter ego und seinen “musikalischen Bruder” bezeichnet. Es ist nicht das erste Mal, dass Herman in dieser nicht alltäglichen Konstellation spielt: schon sein Debütalbum “Takes 2 To Know 1” nahm er 2003 im Duo mit einem Schlagzeuger auf. Damals war sein Partner der Franzose Sylvain Ghio. Doch diesmal ist der Ansatz ein anderer. “Es ist kein Duett im üblichen Sinne”, erläutert Herman. “Es ist ein Solo-Piano mit Schlagzeug. Aber durch das Fehlen eines Basses bin ich genauso gefordert wie wenn ich solo spiele. Obwohl ich dieselbe harmonische Freiheit habe, muss ich mit meiner linken Hand einen kompletten Klangraum kreieren. Es ist eine wirkliche Herausforderung, die durch die Präsenz des Schlagzeugers verstärkt und stimuliert wird.” Schlagzeuger Ziv Ravitz spielt eine essenzielle Rolle dabei, Hermans “Klangwelt” zu errichten.
“Ziv und ich funken auf der gleichen Wellenlänge. Er ist ein geborener Improvisierer. Ich kenne niemanden sonst, der so reaktionsschnell ist wie er. Es ist gespenstisch, wir haben offenbar dasselbe Gefühl für Zeit und Strukturen. Als wir uns die fertigen Aufnahmen anhörten, stellten wir fest, dass wir – ohne uns vorher abgesprochen zu haben – stets exakt denselben Punkt getroffen hatten. Das ist verrückt!” Wie Yaron Herman ist auch Ziv Ravitz aus der jungen israelischen Jazzszene hervorgegangen, die derzeit erstaunlich floriert. Der Schlagzeuger, der schon mit Omer Klein und Shaï Maestro arbeitete sowie Mitglied des Trios Minsarah ist, lebt heute in New York, wo er stets einen vollen Terminkalender hat. Zu den beiden gesellen sich in dem Stück “Volcano” außerdem noch der isländische Singer-Songwriter Helgi Jónsson und ein Streichquartett.
Der 1981 in Tel Aviv geborene Yaron Herman begann erst mit sechzehn Jahren ernsthaft Klavier zu spielen, nachdem eine Verletzung seine eigentlich angestrebte Sportkarriere frühzeitig beendet hatte. Er studierte bei Opher Brayer, der ihn dazu ermunterte kreativ zu sein und ihn auch in die Geheimnisse der Improvisation einweihte. Mit 19 Jahren ging er nach Boston, um am Berklee College of Music zu studieren, zog aber schon bald nach Paris weiter, um dort in die stimulierende Untergrundszene des Jazz einzutauchen. Keine zwei Jahre später konnte er mit seinem Debütalbum “Takes 2 To Know 1” bereits seine erstaunliche Originalität unter Beweis stellen. Bei einem Wettbewerb im Rahmen des La Défense Jazz Festivals begeisterte Yaron Herman das Publikum mit einem außerordentlich eklektischen Repertoire, das neben Jazzstandards auch Stücke von Björk, Gabriel Fauré und Britney Spears sowie ein paar israelische Lieder enthielt.
Zugleich reflektierte sein Spiel musikalische Vorbilder wie Keith Jarrett, Brad Mehldau, Lennie Tristano und Paul Bley. Es folgten Tourneen mit zwei Musikern, die er in New York kennengelernt hatte: Kontrabassist Matt Brewer und Schlagzeuger Gerald Cleaver. Das Trio spielte die beiden Alben “A Time For Everything” (2007) und “Muse” (2009) ein. Auf letzterem gastierte außerdem das Streichquartett Quatuor Ébène. In Deutschland wurde Yaron Herman vor allem durch die beiden Alben bekannt, die er für das Label ACT Music aufnahm: “Follow The White Rabbit” (2010) und “Alter Ego” (2012).
Mit seinem ersten Album für das weltweit renommierte Label Blue Note Records setzt Yaron Herman nun seinen musikalischen Höhenflug fort. Auf “Everyday” zeigt er exemplarisch, wie aufregend der Jazz des 21. Jahrhunderts sein kann. “Wenn es etwas gibt, das ich erhalten möchte”, sagt er abschließend, “dann ist es die Essenz dieser Musik, die vor allem auf Spontaneität und Freiheit basiert sowie auf der Möglichkeit, Risiken einzugehen und etwas zu wagen. Wir dürfen nie vergessen, was für eine Freude wir verspüren, wenn wir solche Musik machen.” Dieselbe Freude verspürt man allerdings auch, wenn man sie hört.
August 2015