Yuval Cohen | News | Ein Saxofonist mit einer ureigenen kammermusikalischen Jazzdynamik

Ein Saxofonist mit einer ureigenen kammermusikalischen Jazzdynamik

Mit “Winter Poems” legt der israelische Sopransaxofonist Yuval Cohen ein hochinteressantes Debütalbum bei ECM vor, auf dem er mit einem neu formierten Quartett in acht Eigenkompositionen innovative Wege beschreitet.
Yuval Cohen
Yuval Cohen
Außerhalb seines Heimatlandes Israel war Yuval Cohen bislang vor allem durch die Alben und Konzerte bekannt, die er seit 2003 mit seinen beiden jüngeren Geschwistern – der Klarinettistin und Saxofonistin Anat Cohen und dem Trompeter Avishai Cohen – unter dem Namen 3 Cohens machte. Avishai ist bereits seit 2016 bei ECM Records zu Hause und hat auf dem Label mittlerweile sechs aufsehenerregende Alben veröffentlicht, zuletzt im vergangenen Jahr “Ashes To Gold”.  Für sein erstes ECM-Album “Winter Poems” hat Yuval Cohen ein neues Quartett mit drei jungen israelischen Musikern zusammengestellt: dem Pianisten Tom Oren, der 2018 den Internationalen Klavierwettbewerb des Thelonious Monk Institute of Jazz gewann, dem Bassisten Alon Near und dem Schlagzeuger Alon Benjamini. Alle drei sind nicht nur hervorragende Instrumentalisten, sondern bringen auch ein tiefes, intuitives Verständnis für die musikalische Sprache und den improvisatorischen Ansatz ihres Bandleaders mit. “Ich schätze mich sehr glücklich, mit diesen drei jungen Leuten spielen zu können”, sagt Yuval. “Ich kenne sie schon lange – sie sind drei wunderbare Seelen und Talente, mit denen es sehr viel Spaß gemacht hat, diese Musik gemeinsam zu kreieren.” Auf dem gesamten Album legt der Saxofonist sein ureigenes Verständnis von kammermusikalischer Jazzdynamik dar und lotet ein breites Spektrum an Einflüssen aus: von folkloristischen Idiomen bis hin zu motivischen Entwicklungen, die der klassischen Musik entlehnt sind. Das Ergebnis sind oft sehr lyrische und nachdenkliche, manchmal aber auch energiegeladene und beflügelnde Stücke.
“Klassische Musik gehört genauso zu mir wie Jazz”, sagt Yuval, der in jungen Jahren eine klassische Musikausbildung genossen hat und heute selbst u.a. am New School-Ableger des Tel Aviver Konservatoriums unterrichtet. “Es ist diese frühe formale Ausbildung, durch die du eine sehr saubere Intonation bekommst, die dich dazu zwingt, sehr sauber zu spielen. Aber die klassische Ausbildung vermittelt auch viele andere Qualitäten, die einem im Jazz und in anderen Kontexten und Genres nützlich sein können.” Yuval und sein Quartett bewegen sich aber nicht im Rahmen eines bestimmten Genres, sondern jonglieren auf subtile Weise mit einer Vielzahl von Idiomen, die eine große dynamische Bandbreite abdecken.
Der klassische Aspekt wird dabei eher tangential gestreift, ist Teil eines musikalischen Grundverständnisses und nicht ein bewusstes Element gebunden. Bevor beispielsweise die endgültige Version des Titelstücks “Winter Poem” entstand, leitete das Quartett das Stück mit einem Fragment aus Franz Schuberts Liederzyklus “Winterreise” ein. Das arpeggierte Moll-Motiv, das der Pianist Tom Oren dabei spielte, wäre auch in dieser endgültigen Version die perfekte Unterfütterung für das absteigende Klaviermotiv aus “Gute Nacht”, dem Eröffnungslied des Zyklus, das dieselbe Tonalität hat. Aber dadurch, dass Yuval unten einsteigt und sich tonal nach oben bewegt, werden neue Wege beschritten und andere Richtungen eingeschlagen. “Das alles ist irgendwie mit der Literatur der klassischen Musik verbunden”, bemerkt Yuval.
Aber auch andere Einflüsse sind prägend. Für das letzte Stück des Albums, “Helech Ruach” (hebräisch für “Stimmung”), ließ sich Yuval von einem Lied inspirieren, das für ihn ein “israelischer Klassiker” ist: “Hu Lo Yada Et Shma”, geschrieben von einem seiner Vorbilder, dem populären, in Russland geborenen israelischen Komponisten Alexander “Sascha” Argow (1914–1995). Bei der Arbeit an “Song For Lo Am” hatte Yuval wiederum Charles Lloyds “direkte Herangehensweise und die Geradlinigkeit seines Spiels” vor Augen, “die das Schroffe mit dem Zarten vermischt”. Das minimalistische, bluesige Design zeigt das Quartett von seiner intimsten und ausdrucksstärksten Seite.
Die volksmusikalischen Untertöne der Levante-Region sind in diesen Liedern allgegenwärtig und verleihen auch balladeskeren Stücken wie dem Opener “First Meditation” eine erdige Qualität. Yuvals einfühlsames Spiel und die flötenähnlichen Klänge des oberen Saxophonregisters unterstreichen diese volksliedhaften Anklänge. “The Dance Of The Nightingale” und “Avia” offenbaren eine weitere kompositorische Facette Yuvals. Hier kommt ein lebhafteres Quartett zum Vorschein. Die Musiker können ihre technischen Fähigkeiten unter Beweis stellen, während sie gleichzeitig zutiefst lyrische Melodien spielen. Besonders hervorzuheben ist das markante und meisterhafte Klavierspiel von Tom Oren.
Anders als mancher Jazzaficionado vermuten mag, sind weder Parker noch Haden die Adressaten von “For Charlie”. Das Stück ist vielmehr Charlie Chaplin gewidmet, dessen Filme Yuval Cohen zu dieser Musik inspirierten. Der Saxofonist verspürte das Bedürfnis, dieses Stück auf einer Melodica zu spielen, und “schleppte sie nur für diese Nummer den ganzen Weg nach Frankreich” (das Album wurde im September 2023 in Pernes-Les-Fontaines aufgenommen und von Manfred Eicher produziert).