Alice Coltrane | News | Jazz und Spiritualität – Impulse!-Wiederentdeckung

Jazz und Spiritualität – Impulse!-Wiederentdeckung

Alice Coltrane ist die Patin des spirituellen Jazz der 60er und 70er Jahre. Eine erstaunliche Albumentdeckung beschreibt jetzt ihre musikalische und geistige Weiterentwicklung.
Alice Coltrane -  Kirtan: Turiya Sings (Impulse! Records)
Alice Coltrane - Kirtan: Turiya Sings (Impulse! Records)
13.07.2021
Dieses Album auf LP und weitere finden Sie in unserem JazzEcho-Store.
Fragt man heute so diverse Künstler wie Flying Lotus, Kamasi Washington, Solange oder Radiohead nach ihren Vorbildern, so fällt auch immer wieder der Name Alice Coltrane. Die 1937 in Detroit geborene und 2007 in Los Angeles verstorbene Musikerin war für ihre einzigartige Klangauffassung legendär, ihr Piano- und Harfenspiel war durch ungewöhnliche Arpeggien geprägt, ihr Orgelspiel durch lang angehaltene, meditative Töne.
Die als Alice McLeod geborene Künstlerin studierte klassische Musik, kam durch ihren Bruder, den Bassisten Ernie Farrow, zum Jazz und lernte bei Bud Powell Jazz-Piano. Bald darauf spielte sie mit ihrem Trio und in der Band des Vibraphonisten Terry Gibbs. Auf einer Tournee lernte sie John Coltrane kennen, lebte mit ihm zusammen und heiratete ihn 1966, nachdem er sich von seiner ersten Frau Naima hatte scheiden lassen. Ab 1965 ersetzte sie in Coltranes Quartett den Pianisten McCoy Tyner.
Überwältigt vom Schmerz, den der viel zu frühe Tod ihres Ehemanns und musikalischen Partners ausgelöst hatte, suchte Alice Coltrane ab 1965 Trost und spirituellen Rat bei hinduistischen Gurus. Ende der 1970er Jahre zog sie sich weitgehend aus dem säkularen Leben zurück. Sie legte sich den Sanskritnamen Turiyasangitananda (“das höchste Lied der Glückseligkeit des transzendentalen Gottes”) zu und eröffnete in Kalifornien ein Meditationszentrum, um dort die indische Vedanta-Philosophie zu lehren.
Zwischen 1981 und 1994 nahm Turiya (so die Kurzform ihres neuen Namens) vier Musikkassetten mit andächtigen Gesängen auf, die sie ausschließlich an Schüler/innen abgab. Zu hören war sie in diesen Aufnahmen mit einem vielstimmigen Chor, Streichern und diversen anderen Instrumenten. Einige dieser Tracks wurden 2017 von David Byrnes Label Luaka Bop auf einer Compilation veröffentlicht.
Als Ravi Coltrane 2004 “Translinear Light”, das Comeback-Album seiner Mutter für Impulse! Records, produzierte, stieß er zufällig auf ihm unbekannte Tonbänder von der ersten Musikkassette mit dem Titel “Kirtan: Turiya Sings”. Sie enthielten lediglich die Spuren von Alices, oder besser: Turiyas Solostimme und ihrer Wurlitzer-Orgel. Von den Sound-Technikern, mit denen er auch bei der Produktion von “Translinear Light” zusammengearbeitet hatte, ließ Ravi diese bewegenden Aufnahmen neu mischen und mastern. Zur Feier des 60-jährigen Jubiläums von Impulse! Records erscheinen die Aufnahmen von “Kirtan: Turiya Sings” nun erstmals für ein größeres Publikum auf Doppel-Vinyl, CD und digital.
Die wunderbare Musik, die auf diesem ungewöhnlichen Album zu hören ist, fällt weder in die Kategorie des Jazz noch ist sie improvisiert. Sie ist vielmehr hingebungsvoll und spirituell. Mit ihrer Stimme verleiht Alice den in Sanskrit gesungenen Liedern Gewicht und Kraft, während ihr Orgelspiel sicher und  pulsierend ist und eine Vielfalt von musikalischen Einflüssen offenbart. “Auf diesem Album werden Sie die Klänge des Blues, des Gospels, der schwarzamerikanischen Kirche hören, oft in Kombination mit dem karnatischen Gesangsstil Südindiens”, merkt Ravi Coltrane an. “Sie werden wunderschöne Harmonien hören, die von Alices Detroit/Motown-Wurzeln und ihren Bebop-Wurzeln ebenso geprägt sind wie von dem Einfluss John Coltranes und der europäischen klassischen Musik, insbesondere der ihres Lieblingskomponisten Igor Strawinsky. Doch gleichzeitig ist dies auch eine funktionale Musik. Ihr Ziel ist es, mit Licht und Liebe die Namen des Höchsten zu preisen.”
“Ich spürte, dass ihre Leidenschaft, Hingabe und Erhabenheit beim Singen der Lieder in diesem Rahmen am besten zur Geltung gekommen war”, fährt Ravi fort. “Und mir wurde klar, dass die Leute ‘Turiya Sings’ in diesem Kontext hören mussten. Während ich aufwuchs spielte sie diese Lieder bei uns zu Hause auf derselben Wurlitzer-Orgel, die man hier auf dem Album hört. Und als ihr Sohn kann ich bestätigen, dass diese Version der Aufnahmen die Reinheit und Essenz von Alices musikalischer und spiritueller Vision bewahrt. Die neue Klarheit verleiht diesen Gesängen in vielerlei Hinsicht noch viel mehr Erhabenheit.”
Ravi Coltrane – Interview Part 1/4 
Ravi Coltrane – Interview Part 2/4
Ravi Coltrane – Interview Part 3/4
Ravi Coltrane – Interview Part 4/4