Mit einer neuen Besetzung, oder vielmehr: neuen Besetzungen, präsentiert sich der Tenorsaxophonist Charles Lloyd auf “Lift Every Voice”. Die Aufnahmen kamen im Januar und Februar diesen Jahres bei zwei Sessions in Los Angeles zustande.
Die erste Session machte Lloyd mit der Pianistin Geri Allen (die damit erstmals auf einem ECM-Album zu hören ist), Bassist Larry Grenadier und Schlagzeuger Billy Hart, die andere mit Gitarrist John Abercrombie, Bassist Marc Johnson sowie einmal mehr Allen und Hart. (Bei seinen Konzerten möchte Lloyd in nächster Zeit in wechselnden Besetzungen mit diesen Musikern auftreten.) Wohl nie zuvor hat Charles Lloyd auf einem seiner Alben ein derart breitgefächertes Programm geboten: Neben Eigenkompositionen enthält diese Doppel-CD Spirituals, Folksongs, Hymnen, Jazzstandards, Liebeslieder und Protestsongs. Den Anstoss zu einem Teil des Repertoires erhielt Lloyd durch die verheerenden Ereignisse vom 11. September 2001. An besagtem Tag hätte er abends eigentlich im New Yorker Jazzclub Blue Note auftreten sollen. Da in Downtown-Manhattan nach den Terrorakten aber noch länger Bestürzung und Chaos vorherrschten und die Menschen andere Sorgen hatten, mussten Lloyd, Allen, Abercrombie, Grenadier und Hart noch drei Tage warten, bis sie ihren geplanten Auftritt im Blue Note absolvieren konnten.
Lloyds Ehefrau und Ko-Produzentin Dorothy Darr über die Entstehungsgeschichte dieses Albums: “Ein paar Monate nach der Abreise aus New York fand Charles endlich Trost in einigen Spirituals und Liedern wie Silvio Rodriguez` `Rabo de Nube`, das eine wundervolle und melancholische Melodie besitzt. `Lift Every Voice` handelt von der Trauer und Verzweiflung, die wir als Zeugen der Ereignisse vom 11.9. alle verspürten. Wenn man diese Dinge in Worte fassen will, scheint es, dass man all das, was da geschah, trivialisiert. Aber diese Erlebnisse bestimmten nun mal die Entstehung dieser Songkollektion und auch die Auswahl der Mitmusiker. Das Stück ´Lift Every Voice And Sing` in das musikalische Programm des Albums aufzunehmen, schien ganz besonders angemessen. Das Stück, das 1900 von zwei Brüdern – dem Bürgerrechtler und Dichter James Weldon Johnson sowie dem Komponisten John Rosamond Johnson – verfasst wurde, wurde als Nationalhymne der Schwarzen bekannt. Am Anfang des 21. Jahrhunderts könnte es aber eben so gut eine Hymne des ganzen Universums sein.
”Diese traditionellen Songs harmonieren ausgezeichnet mit Charles` eigenen Kompositionen und Hymnen. Strayhorns `Bloodcount` trauert mit uns, `Go Down, Moses` verlangt nach Freiheit, `Deep River` wiederum bietet einen freudigen Refrain – und `What`s Going On?` wurde von Marvin Gaye in den 60ern geschrieben, um gegen andere Grausamkeiten zu protestieren, und dieser Text ist noch heute relevant."
“Als Kind hatte Charles die idealistische Idee, die Welt durch die Schönheit der Musik verändern zu wollen. Auf diesem Album präsentiert er die Musik als Gebet, Wehklage, Zelebration, Liebe und als Tanz des Geistes. Bei den Aufnahmen ging es nicht darum, seine Cleverness oder Virtuosität unter Beweis zu stellen, sondern ein Statement dazu abzugeben, wie jedes Individuum Teil eines grösseren Ganzen ist.”
Kurzum: Charles Lloyd stösst hier – anders als einige seiner Landsleute – in keinster Weise ins patriotische Horn. Dank seines gemischtrassigen Backgrounds (er hat Afrikaner, Cherokee-Indianer, Iren und Mongolen in seiner Ahnenreihe) gehört Lloyds Interesse der Musik der ganzen Welt. Auch vertiefte er sich, wie bekannt sein dürfte, intensiv in fernöstliche Religion und Philosophie. Er war schon immer ein Weltbürger, und so stellt er der Hymne “Amazing Grace” (deren Text im 18. Jahrhundert von dem vormaligen Sklavenhändler und späteren Minister John Newton verfasst wurde; der Komponist ist unbekannt) ganz unbefangen “Hafez, Shattered Heart” zur Seite, seine eigene Hommage an den islamistischen Sufi-Poeten Khwajeh Shams al-Din Muhammad Hafez-e Shirazi, der im 14. Jahrhundert im Süden des heutigen Iran gelebt hat. Die Musik ist, direkt oder indirekt, sowohl von westlichen als auch von östlichen Einflüssen geformt worden.
Das neue Bandmitglied Geri Allen passt hervorragend in diesen Kontext und ihre musikalischen Interessen sowie ihr Werdegang weisen Parallelen zu dem Lloyds auf. Sie wuchs mit Duke Ellington im Ohr auf, hat einen Abschluss in Musikethnologie gemacht, mit diversen früheren Lloyd-Partnern (Tony Williams, Ron Carter, Jack DeJohnette und Dave Holland) zusammengearbeitet, spielte oftmals mit Lloyds altem Freund Ornette Coleman, hat Erfahrung in der Begleitung von Sängerinnen (von Betty Carter über Cassandra Wilson bis hin zur Motown-Sängerin Mary Wilson), ist auch Rockmusik gegenüber nicht abgeneigt (sie war Mitglied der von Vernon Reid ins Leben gerufenen Vereinigung Black Rock Coalition) und natürlich selbst eine profilierte Bandleiterin. Viel wichtiger als diese Gemeinsamkeiten ist aber wohl, dass auch Geri Allen, obwohl sie stark in der Jazztradition verwurzelt ist, die Grenzen derselben beständig in Frage stellt und erweitert. Charles Lloyd und auch John Abercrombie besitzen vergleichbare Tugenden.
Der Gitarrist John Abercrombie stiess 1998 für die Einspielung des Albums “Voice In The Night” zu Lloyds Band und spielte auch auf “The Water Is Wide” und "Hyperion With Higgins² eine bedeutende Rolle. Abercrombie ist der erste Gitarrist, mit dem Lloyd zusammenspielt, seit seiner Partnerschaft mit Gabor Szabo in Chico Hamiltons Band in den frühen 60er Jahren. Abercrombie ist freilich auch schon ein ECM-Veteran und war, seit er 1974 mit “Timeless” sein ECM-Debüt gab, an der Einspielung von annähernd 40 Alben für das Münchner Label beteiligt. John Abercrombie hat für die vielgelobte “:rarum”-Anthologienreihe gerade erst eine Auswahl seiner persönlichen Favoriten zusammengestellt, die Anfang 2003 erscheinen soll. Sein letztes Album als Leader war “Cat`n`Mouse”, eingespielt mit Bassist Marc Johnson, Geiger Mark Feldman und Schlagzeuger Joey Baron.
Marc Johnson, der in letzter Zeit mehrere Europa-Tourneen mit Charles Lloyd unternommen hat, kann ebenfalls auf eine beachtliche ECM-Diskographie zurückblicken. Mit seinem damals sensationellen Quartett Bass Desires (mit Bill Frisell, John Scofield und Peter Erskine) spielte er zwei Alben für ECM ein, die heute als Klassiker des modernen Jazz gelten; darüber hinaus war er als Mitglied von Abercrombies Trio bzw. Quartett sowie als Sideman von Dino Saluzzi und Ralph Towner an weiteren Aufnahmen für das Label beteiligt.
Johnsons Instrumentalkollege Larry Grenadier stiess gemeinsam mit dem Pianisten Brad Mehldau zu Lloyds Band. Die beiden sind auf den Lloyd-Alben “Water Is Wide” und “Hyperion With Higgins” zu hören. Grenadier ist, der auch schon mit anderen Grössen wie Gary Burton, Joe Henderson, Pat Metheny und Paul Motian zusammenarbeitete, ist besonders von den Führungsqualitäten des Tenorsaxophonisten beeindruckt. “Er lässt die Persönlichkeiten seiner Musiker völlig frei zu Wort kommen”, schwärmte der Bassist kürzlich in einem Interview. “Ich bin stolz auf die Musik, die während dieser Aufnahmetage in Los Angeles zustandekam. Ich denke, es ist sehr ehrliche, von Herzen kommende Musik.”
Billy Hart schliesslich ist einer der versiertesten und vielseitigsten Schlagzeuger der Gegenwart. Er war schon in vielen von Lloyd geleiteten Bands die treibende Kraft und wirkte auch an den Einspielungen der ECM-Alben “The Call”, “All My Relations” und “Canto” mit. Neben einer Reihe hochkarätiger Alben unter eigenem Namen machte Billy Hart Aufnahmen mit Miles Davis, Stan Getz, Wes Montgomery, Herbie Hancock, McCoy Tyner, Joe Lovano, David Murray, Joe Zawinul, Paul Bley und Jimmy Smith.
Musiker: Charles Lloyd – tenor sax, flute & tarogato / Geri Allen – piano / John Abercrombie – guitar / Larry Grenadier & Marc Johnson – double-basses / Billy Hart – drums