Auf “Avenging Angels” hatte Craig Taborn das Idiom des Solo-Klaviers 2011 um erstaunlich frische Ideen bereichert. “Es spiegelt Taborns galaktisch breit gefächerte Interessen wider”, hieß es damals in der New York Times, “und auch seine facettenreiche Technik”. Der britische Guardian wiederum begrüßte Craigs “Welt der geflüsterten, weiträumigen Figuren, klingenden Obertöne, sich verflüchtigenden Echos und grollenden kontrapunktischen Kaskaden”.
Seither ist Taborn bei ECM in den verschiedensten Kontexten mit großen und kleinen Ensembles in Erscheinung getreten. Man konnte ihn zum Beispiel auf “Chants” (2013) im klassischen Trio-Format mit Thomas Morgan und Gerald Cleaver hören oder auf “Daylight Ghosts” (2017) im Quartett mit Chris Speed, Chris Lightcap und Dave King. Mit Vijay Iyer spielte er für “The Transitory Poems” (2019) faszinierende Klavierduette ein. Darüber hinaus wirkte er als Sideman auf Michael Formaneks “Small Places” (2012), Chris Potters “The Sirens” (2013) und “Imaginary Cities” (2015), Ches Smiths “The Bell” (2016), und Roscoe Mitchells “Bells For The South Side” (2017) mit. Doch wie sein neuestes Album “Shadow Plays” jetzt zeigt, hat Craig Taborns Solomusik, ungeachtet all dieser Nebenaktivitäten, weiter an Kraft gewonnen.
In den zurückliegenden zehn Jahren hat der Pianist seinen Ansatz so verfeinert und weiterentwickelt, dass er sich nun auf “Shadow Plays” zu neuen Höhen aufschwingen kann. Für Craig ist die Aufnahme “Teil desselben zusammenhängenden Ganzen wie ‘Avenging Angel’. Während das eine eine Studioaufnahme war, ist dies hier eine Live-Aufnahme. Aber dieser Prozess der spontanen Komposition wird fortgeführt.” Das neue Album ist ein atemberaubendes Live-Recital aus dem Mozart-Saal des Wiener Konzerthauses, wo das Programm am 2. März 2020 unter dem Titel “Avenging Angel II” aufgeführt wurde. In diesem vollständig improvisierten Konzert erkundet Craig Klänge und Stille, wirbelnde Farben sowie verschieden Dichtegrade und Formen. Dabei erschafft er neue Musik mit poetischer Fantasie und absoluter Kontrolle über sein Material. Dass er sein Handwerk auf außerordentliche Weise beherrscht, wird vor allem deutlich, wenn er, seiner Intuition und Erfahrung folgend, aus nur leise angedeuteten Mustern zielsicher Narrativen und Strukturen entwickelt.
“Wenn du improvisierst”, erzählte Taborn Adam Shatz in einem Interview für die New York Times, “beobachtest und kreierst du im selben Augenblick. Um den nächsten Schritt zu machen, musst du wirklich ganz nah an das Geschehen herankommen.”
“Freie Improvisation” kann vieles bedeuten. Für Taborn geht es in diesem Kontext nicht um automatisches Komponieren oder Selbstentfaltung im Bewusstseinsstrom, sondern darum, sowohl den größeren Rahmen des Konzerts im Auge zu behalten als auch die präzisen Aussagen, die sich aus den Details der Musik ergeben, die sich wiederum von einem Augenblick auf den nächsten ändern. “Viele meiner Interessen drehen sich um den Versuch, die Grenzen zu erweitern, innerhalb derer du etwas erschaffen kannst…”, hat Craig Taborn festgestellt. “Anstatt mich einfach dem freien Fluss hinzugeben, wenn ich von Punkt A nach Punkt B reise, versuche ich wirklich, das Material während seiner Entstehung in Echtzeit zu konstruieren und zu organisieren. Und das, was auf diese Weise entsteht, unterscheidet sich von Musik mit vorkomponierten Elementen.”
Taborn ist natürlich in jedwedem Kontext ein großartiger Improvisator und wird für seine Fähigkeit geschätzt, zum Kern der Musik vorzustoßen, ganz gleich in welchem Rahmen. In seinen Solowerken sind Verbindungen zum Jazz nicht immer offensichtlich. Aber im Verlauf des Stücks, das im Nachhinein “Conspiracy Of Things” betitelt wurde, scheinen Anspielungen auf die Geschichte dieser Musik, vom Stride-Piano-Stil an, blitzschnell vorbeizuziehen. In allen Stücken werden Ideen auf mehreren Ebenen erforscht. Emotionen wie Zärtlichkeit und Wildheit existieren in mit Bedacht betitelten Stücken wie “Discordia Concors” und “Concordia Discors” nebeneinander. Dahinter stecken Konzepte, die die Idee der Einigkeit durch Diversität widerspiegeln. “Die Titel gebe ich den Stücken erst, wenn sie fertig sind”, verriet Taborn kürzlich in einem Interview mit der Zeitschrift Bomb, “und dabei berücksichtige ich auch ihre programmatischen Positionen – in gewisser Weise ist die Titelgebung die letzte Phase des Komponierens. Und ich verstehe die Titel als Einladungen, die musikalische Erfahrung auf andere Bereiche auszuweiten.” Die Inklusivität seines Werks – das auf subtile Weise von Musik und Kunst vieler Traditionen geprägt ist – lädt zu neuen Assoziationen und freien Reaktionen ein.