Racheengel am Piano – Craig Taborn legt sein erstes reines Soloalbum “Avenging Angel” vor
Das Piano ist mit Abstand das am häufigsten gespielte und aufgenommene Soloinstrument des Jazz. Da könnte man leichtfertig annehmen, es wäre bereits alles gesagt, was es auf diesem Instrument zu sagen gibt. Doch immer wieder tauchen Pianisten auf, die den bereits vorhandenen Kanon um neue Facetten bereichern. Der aus Detroit stammende Craig Taborn tut dies nun auf seinem ersten Pianosoloalbum “Avenging Angel”, mit dem er bei ECM zugleich seinen Einstand als Solokünstler gibt. Der heute 40-jährige Taborn begann in den 1990er Jahren sich einen Namen als außergewöhnlich phanatsievoller Improvisierer zu machen. Dabei beschränkte er seinen Wirkungsradius schon früh keineswegs auf den Jazz allein, sondern brachte sich auch mehrfach in ambitionierte Projekte auf dem Feld der elektronischen Musik ein. Mit Carl Craig, dem kreativen Kopf der Detroiter Techno- und House-Szene, und dessen Innerzone Orchestra erkundete er 1999 das klangliche Terrain zwischen Techno und Jazz; zusammen mit Bill Laswell begab er sich ein Jahr später in die “Dub Chamber”; und mit der experimentellen britischen Industrial-Band Meat Beat Manifesto spielte er 2005 eine wilde Mixtur aus Free-Funk und Avantagrde-Electronica. Weitaus jazzorientierter agierte er an der Seite von James Carter, Tim Berne und Dave Douglas sowie auf den ECM-Alben, die er als Sideman von Roscoe Mitchell, Evan Parker, David Torn und Michael Formanek einspielte. In den letzten paar Jahren trat er verstärkt auch als Solo-Performer in Erscheinung. “Meine Improvisationen sind in einem gewissen Sinne immer ‘kompositorisch’, aber für dieses Album habe ich einen sehr fokussierten kompositorischen Ansatz gewählt”, erläutert Taborn das Konzept von “Avenging Angel”. “Bei diesen Einspielungen konzentriere ich mich auf bestimmte Details. Die Musik ist wirklich improvisiert: Ich lege einfach los. Aber dann versuche ich alles, was folgt, etwa die motivischen oder rhythmischen und strukturellen Details, in einen möglichst engen Zusammenhang mit den ursprünglichen Ideen zu bringen. Ich versuche durch mein Spielweise Dinge aus dem musikalischen Material selbst heraus zu erschaffen. Und vieles kann dabei auch vom Instrument abhängen: vom Klang des Klaviers selbst und von dem, was es erzeugt. Ich bin an der Geschichte der Klaviermusik interessiert, das steht außer Frage, aber ich höre das Instrument nicht unbedingt in diesem Kontext. Ich empfinde es auch als eine reine Klangquelle, achte sehr auf die Töne und Obertöne und wie das Instrument nachklingt. Bei dieser Musik geht es nicht darum, ‘das Klavier zu transzendieren’, sondern darum, aus ihm herauszuholen, was möglich ist.” Eines der auffälligsten Charakteristika des Albums ist die Art, wie Craig Taborn die Balance zwischen Klangdichte und struktureller Klarheit herstellt. “Ich mag Transparenz und ich mag es, wenn Details klar wahrnehmbar sind. Aber mir gefällt es auch, Klänge übereinander zu schichten: ich mag komplexe Klangpaletten, Mehrstimmigkeit, alternierende Rhythmen.” Es mag wie die Quadratur des Kreises klingen, doch Craig Taborn ist es auf “Aveninging Angels” in eindruckvoller Weise gelungen, ein Gleichgewicht zwischen diesen beiden Polen herzustellen und so eines der spannendsten und fesselndsten Pianosoloalben des modernen Jazz zu erzeugen.